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Lobgesang auf Leibowitz

Lobgesang auf Leibowitz

Titel: Lobgesang auf Leibowitz
Autoren: Walter M. jr. Miller
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Zerchi herab.
    »Gott sei Dank! Mrs. Grales! Schauen Sie, ob Sie Vater Lehy finden können…«
    »Gottseidankmrsgrales-schauensieobsievater…«
    Zerchi blinzelte einen Schleier von Blut fort und betrachtete sie genau.
    »Rachel«, stieß er aus.
    »Rachelrachel«, antwortete das Geschöpf.
    Sie kniete vor ihm nieder, ließ sich dann auf ihre Fersen zurücksinken. Sie beobachtete ihn mit kühlen grünen Augen und lächelte unschuldig. Die Augen waren wach und voll Erstaunen, Neugier und – vielleicht etwas anderem, aber sie konnte offenbar nicht sehen, daß er Schmerzen hatte. Es war etwas in ihren Augen, das ihn veranlaßte, mehrere Sekunden lang nichts außer ihnen wahrzunehmen. Doch dann bemerkte er, daß der Kopf von Mrs. Grales auf der anderen Schulter fest schlief, während Rachel lächelte. Es wirkte wie ein junges scheues Lächeln, das auf Freundschaft hoffte. Er versuchte es wieder.
    »Hören Sie, ist jemand am Leben? Holen…«
    Melodisch und feierlich kam die Antwort:
    »Hörensieistjemandamleben…« Sie genoß die Worte. Sie sprach sie ganz deutlich aus. Sie lächelte dabei. Ihre Lippen bildeten sie nach, als die Stimme sie gesprochen hatte. Es ist mehr als ein imitatorischer Reflex, entschied er. Sie versuchte etwas mitzuteilen. Durch die Wiederholung versuchte sie die Idee zu vermitteln: Ich bin irgendwie dir gleich.
    Aber sie war doch eben erst geboren worden.
    Und außerdem bist du auch irgendwie verschieden, stellte Zerchi mit einer Spur von Ehrfurcht fest. Er erinnerte sich, daß Mrs. Grales in beiden Knien Arthritis hatte, doch der Körper, der einst ihrer gewesen war, kniete nun hier und hockte auf den Fersen in der geschmeidigen Haltung der Jugend. Mehr noch, die verrunzelte Haut der alten Frau schien weniger verrunzelt als früher, und es schien, als glühe sie ein wenig rötlich, wie wenn alte verhornte Gewebe wieder lebendig würden. Plötzlich sah er ihren Arm.
    »Sie sind verletzt!«
    »Siesindverletzt.«
    Zerchi deutete auf ihren Arm. Statt zu schauen, wohin er deutete, imitierte sie seine Geste, wobei sie auf seinen Finger schaute und ihren eigenen ausstreckte, um seinen zu berühren – mit dem verletzten Arm. Es war nur wenig Blut da, und doch waren es wenigstens ein Dutzend Wunden, und eine davon sah tief aus. Er zog sie an ihrem Arm. Entweder hatte sie den Arm durch eine Scheibe gestoßen oder, wahrscheinlicher, sie hatte gerade dagestanden, als die Druckwelle eine Scheibe zerbersten ließ. Nur einmal, als er einen drei Zentimeter langen Glassplitter entfernte, kam ein bißchen Blut. Als er die anderen herausholte, blieben winzige blaue Stellen, aber es kam kein Blut. Dies erinnerte ihn an eine Hypnose-Demonstration, die er einmal gesehen hatte und die er für Humbug gehalten hatte. Als er wieder in das Gesicht blickte, wuchs seine Ehrfurcht. Sie lächelte ihn immer noch an, als habe die Entfernung der Glassplitter ihr keinerlei Unannehmlichkeit verursacht.
    Er schaute wieder in das Gesicht von Mrs. Grales. Es war grau geworden unter der unpersönlichen Maske des Komas. Die Lippen wirkten blutleer. Irgendwie war er sicher, daß sie starb. Er konnte sich vorstellen, daß das Gesicht verwelkte und schrumpfte und gelegentlich abfallen würde wie ein Schorf oder wie eine Nabelschnur. Aber wer war dann Rachel? Und was?
    Auf den regennassen Steinen lag noch ein wenig Feuchtigkeit. Er benetzte eine Fingerspitze und winkte ihr, näherzukommen. Was immer sie war, sie hatte wahrscheinlich viel zuviel Strahlung abbekommen, um lange zu leben. Er begann über ihre Stirn mit seinem feuchten Zeigefinger ein Kreuz zu ziehen.
    »Nisi baptizata es et nisi baptizari nonquis, te baptizo…«
    Weiter kam er nicht. Sie beugte sich rasch nach rückwärts von ihm weg. Ihr Lächeln gefror und verschwand dann. Nein! schien ihre ganze Haltung zu rufen. Sie wendete sich von ihm fort, wischte das Feuchte von ihrer Stirn, schloß die Augen und ließ die Hände schlaff in den Schoß sinken. Ein Ausdruck völliger Passivität kam in ihr Gesicht. In dieser Haltung, mit dem Kopf auf solche Weise geneigt, schien alles darauf hinzudeuten, daß sie betete. Stufenweise wurde aus der Passivität ein neues Lächeln geboren. Es wuchs. Als sie die Augen öffnete und ihn wieder ansah, geschah dies mit der gleichen offenen Wärme wie zuvor. Doch sie blickte umher, als suche sie etwas.
    Ihre Blicke fielen auf das Ciborium. Ehe er sie aufhalten konnte, nahm sie es auf. »Nein!« keuchte er heiser und griff danach. Aber sie war
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