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Lobgesang auf Leibowitz

Lobgesang auf Leibowitz

Titel: Lobgesang auf Leibowitz
Autoren: Walter M. jr. Miller
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und lief um sein Leben.
    Das Gebäude stürzte über ihm zusammen.
     
     
    Als er erwachte, sah er nichts als Staub. An der Taille war er gegen den Boden gepreßt. Er lag auf dem Bauch im Staub und versuchte sich zu bewegen. Ein Arm war frei, doch der andere lag unter der Last, die ihn niederhielt. Die freie Hand hielt noch immer das Ciborium umklammert, doch im Fallen hatte er es wohl umgestoßen, der Deckel war weggerollt, und ein paar der kleinen Hostien waren über den Boden verstreut.
    Die Druckwelle hatte ihn glatt aus der Kirche herausgeschleudert. So war es, entschied er. Er lag im Sand und sah die Überreste eines Rosenstrauchs, den ein Steinschlag erwischt hatte. Eine Rose hing noch an einem Zweig – eine von den lachsfarbenen Armeniern, sah er. Die Blütenblätter waren versengt.
    Es herrschte ein ungeheures Getöse von Maschinen im Himmel, blaue Lichter blinkten unablässig durch den Staub. Er spürte zunächst keinen Schmerz. Er versuchte seinen Kopf zu drehen, um einen Blick zu erhaschen auf das Untier, das auf ihm hockte, doch da begann es weh zu tun. Seine Augen trübten sich. Er schrie leise auf. Er würde nicht wieder versuchen, hinter sich zu schauen. Fünf Tonnen Stein hatten ihn eingeklemmt. Sie bedeckten, was von ihm noch übrig war, von der Hüfte abwärts.
    Er begann die kleinen Hostien einzusammeln. Er bewegte vorsichtig seinen gesunden Arm. Mit Sorgfalt pickte er jede einzelne Oblate aus dem Sand. Der Wind drohte die kleinen Flocken Christi davonzuwehen. Jedenfalls hab ich’s versucht, Herr, dachte er. Braucht jemand die letzte Wegzehrung? Viaticum? Sie müssen zu mir herkriechen, wenn sie’s brauchen. Oder ist niemand mehr übrig? Er konnte in dem schrecklichen Getöse keine Stimmen vernehmen. Blut sickerte ihm immer wieder in die Augen. Er wischte es mit dem Unterarm fort, um so zu vermeiden, daß er die Hostien mit blutbefleckten Fingern berühren mußte. Das falsche Blut, Herr. Meins, nicht das Deine. Dealba me!
    Er legte die meisten der verstreuten Opfergaben in das Gefäß zurück, doch ein paar flüchtige Flocken entgingen seinem Griff.
    Er streckte sich, um sie zu erreichen, wurde aber wieder ohnmächtig.
    »Jesus-Maria-Joseph! Helft mir!«
    Schwach vernahm er eine Antwort, fern und kaum hörbar unter dem heulenden Himmel. Es war die sanfte merkwürdige Stimme, die er im Beichtstuhl gehört hatte, und wieder bildete sich das Echo zu seinen Worten: »Jesusmariajosephhelftmir.«
    »Was?« schrie er.
    Er schrie es mehrmals, aber es kam keine weitere Antwort. Staub begann niederzufallen. Er setzte den Deckel auf das Ziborium, damit der Staub sich nicht auf die Oblaten legte. Dann lag er eine Weile ganz still, die Augen geschlossen.
    Die Schwierigkeit, Priester zu sein, besteht darin, daß du unter Umständen den Rat befolgen mußt, den du anderen gibst. Die Natur erlegt einem nichts auf, was die Natur uns nicht auch ertragen ließe. Und das da jetzt, das hab ich verdient, weil ich ihr zuerst gesagt hab, was die Stoiker lehrten, bevor ich ihr sagte, was Gott sagt, dachte er.
    Der Schmerz war nicht groß, es war mehr ein wütendes Jucken an den Teilen des Körpers, die eingequetscht waren. Er versuchte sich zu kratzen, seine Finger trafen nur den nackten Stein. Er krallte eine Weile an ihm herum, zuckte die Achsel und zog die Hand zurück. Das Jucken war zum Verrücktwerden. Zerstörte Nerven blitzten idiotische Wünsche nach Gekratztwerden ins Gehirn. Abt Zerchi fühlte sich sehr entwürdigt.
    Na, Doktor Cors, woher wollen Sie wissen, ob nicht das Jucken ein tieferes Übel als der Schmerz ist?
    Darüber mußte er ein bißchen lachen. Das Lachen verursachte eine plötzliche Ohnmacht. Er schaufelte sich aus der Finsternis hervor unter dem begleitenden Geschrei von irgend jemand. Plötzlich wußte er, daß er selbst es war, der schrie, und plötzlich hatte er Angst. Das Jucken hatte sich in Agonie verwandelt, doch die Schreie waren Schreie des nackten Entsetzens, nicht der Schmerzen gewesen. Auch der Atem ging jetzt qualvoll. Und die Qual blieb, aber er konnte sie ertragen. Das Entsetzen kam aus dem letzten bißchen Erinnerung an das tintenschwarze Nichts. Die Finsternis schien über ihm zu drohen, nach ihm zu trachten, gierig auf ihn zu warten – ein riesiger schwarzer Appetit mit einer Vorliebe für Seelen. Schmerzen, die konnte er ertragen, aber nicht diese entsetzliche Finsternis. Entweder es gab etwas in ihr, das dort nicht sein sollte, oder es gab etwas hier, das noch getan werden
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