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Little Miss Undercover - Ein Familienroman

Little Miss Undercover - Ein Familienroman

Titel: Little Miss Undercover - Ein Familienroman
Autoren: Lisa Lutz
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Leonard Williams, Len für seine Freunde aus der Oberstufe. Tatsächlich kannte ich ihn kaum und hatte ihm niemals Drogen abgekauft. Was ich über ihn wusste, hatte ich mir über Jahre zusammengelauscht. So komme ich meistens an wertvolle Informationen. Ich wusste, dass Lens Mutter arbeitsunfähig und von Schmerzmitteln abhängig war. Ich wusste, dass sein Vater bei einem Schusswechsel in einem Spirituosenladen getötet wurde, als Lenny sechs war. Ich wusste, dass er zwei kleine Brüder hatte und die Sozialhilfe sie nicht satt machte. Ich wusste, dass Len mit Drogen dealte, wie andere Kinder nach Schulausgang jobbten – um seine Familie zu ernähren. Ich wusste auch, dass er schwul war, und hatte es niemandem erzählt.
    Passiert war es in der Nacht des ungesühnten Verbrechens Nr. 3. Petra und ich brachen in die Schule ein, um Material aus dem Sportgeräteschrank zu stehlen (ich glaubte, unseren chronischen Geldmangel durch den Handel mit gebrauchten Sportartikeln beheben zu können). Ich knackte das Schrankschloss, dann trugen Petra und ich den Inhalt zu ihrem Auto. Schließlich packte mich aber die Gier: Mir fiel ein, dass Walters, der Trainer, meist eine Flasche Wild Turkey in der Schreibtischschublade verwahrte. Während Petra schon im Auto saß, kehrte ich in die Schule zurück und ertappte Len dabei, wie er mit einem Footballspieler in Walters Büro herummachte. Weilich kein Wort darüber verlor, dachte Len, er sei mir was schuldig. Er wusste nicht, wie leicht es mir fiel, Geheimnisse zu wahren, da ich selbst so viele hatte. Ein Geheimnis mehr oder weniger machte da keinen Unterschied.
    »Ich bin keine Petze«, war also mein einziger Kommentar auf dem Kommissariat.
    Stumm brachte mich mein Vater nach Hause. Len blieb unbehelligt. Die Cops hatten nur einen Spitznamen als Anhaltspunkt. Und ich kam relativ ungeschoren davon, anders als mein Vater, der den endlosen Spott seiner ehemaligen Kollegen über sich ergehen lassen musste; die fanden es einfach zu komisch, dass er seine eigene Tochter nicht zum Sprechen bringen konnte. Ich aber wusste, dass er in jahrelanger Feldarbeit den Ehrenkodex der kriminellen Zunft begriffen hatte und mein Schweigen in gewisser Weise respektierte.
    Sieht man einmal von der Chronik meiner Missetaten und von Vergleichen mit meinem Bruder ab, spricht vieles für mich, auch wenn es einige erstaunen mag. Ich kann mir das Inventar eines jeden Raumes, den ich betrete, binnen kurzer Zeit einprägen; ich kann Taschendiebe mit der Präzision eines Scharfschützen ausfindig machen; ich kann jeden Nachtwächter dazu überreden, mir den Weg freizugeben. Wenn mir etwas wirklich wichtig ist, kann ich eine Beharrlichkeit entwickeln, die ihresgleichen sucht. Und auch wenn ich vielleicht keine Schönheitskönigin bin, wollen viele Männer mit mir ausgehen, die es eigentlich besser wissen müssten.
    Allerdings wurden diese guten Eigenschaften (wozu auch immer sie gut sein mochten) über Jahre von meiner Provokationslust überschattet. Weil der Markt für Vollkommenheit in jeder Hinsicht von David beherrscht wurde, musste ich wohl oder übel aus meiner Unvollkommenheit Profit schlagen. Manchmal hörte man bei uns zu Hause nur diese zwei Sätze: Toll gemacht, David! Und: Was hast du dir eigentlich dabeigedacht, Isabel? Während meiner Teenagerzeit wurde ich unentwegt zum Schuldirektor zitiert und von Polizeistreifen aufgesammelt, ich tat nichts anderes, als zu randalieren, im Badezimmer zu rauchen, am Strand zu saufen, Hausfriedensbruch zu begehen, bekam Schul- und Hausarrest verpasst, musste Moralpredigten über mich ergehen lassen, verstieß gegen Ausgangssperren, wachte verkatert auf, kämpfte mit Blackouts, konsumierte illegale Drogen und lief in Militärstiefeln und mit ungewaschenen Haaren herum.
    Trotzdem war es mir nie vergönnt, so viel Schaden anzurichten, wie ich mir vorgenommen hatte, weil David stets für Schadensbegrenzung sorgte. Wenn ich später als erlaubt nach Hause kam, deckte er mich. Wenn ich log, bestätigte er meine Geschichten. Wenn ich stahl, brachte er die Beute zurück. Wenn ich rauchte, ließ er die Stummel verschwinden. Wenn ich besoffen im Vorgarten einschlief, trug er meinen besinnungslosen Körper in mein Zimmer. Wenn ich mich weigerte, einen Aufsatz zu schreiben, schrieb er ihn für mich, der Glaubwürdigkeit halber ließ er sich dabei auf mein sprachliches Niveau herab. Und wenn er spitzbekam, dass ich seine Arbeit nicht als meine ausgeben wollte, steckte er die
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