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Lincolns Träume

Lincolns Träume

Titel: Lincolns Träume
Autoren: Connie Willis
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der erste?« fragte ich.
    »Schlimm genug, um ihm Angst einzujagen. Er war überzeugt davon, sterben zu müssen. Deshalb hatte ich angenommen, er habe es Ihnen gesagt.« Er ließ die Seiten zurückfallen und klemmte sich den Krankenbericht unter den Arm. »Nun, ich stimme Ihnen zu, daß er es verdient, für sein Verschweigen angeschrien zu werden, aber als sein Arzt werde ich Sie nicht wieder zu ihm hineingehen lassen, ehe Sie mir versprochen haben, die Herzgeschichte ihm gegenüber so lange nicht zu erwähnen, bis er in einer besseren Verfassung ist als im Augenblick. Er muß seine Gründe dafür gehabt haben, Ihnen nichts von dem Herzanfall zu sagen.«
    »Schätze ja«, sagte ich.
    Ich ging wieder ins Zimmer zurück und entschuldigte mich dafür, daß ich ihn angeschrien hatte. »Ich hatte vor der Herzattacke keine Träume«, sagte Broun. »Ich habe keinerlei Vorwarnung bekommen.«
    »Annie schon«, sagte ich. »Die Träume sollten sie warnen. Bloß darauf hören wollte sie nicht.«
    Er lehnte sich in die Kissen zurück. »Hätte ich vor dem Anfall geträumt, ich befände mich in einem Boot und triebe auf einer düstere, schemenhafte Küste zu, hätte ich auch nicht darauf gehört. Wenn Lincoln mich seine Träume träumen ließe, dann könnte mich nichts auf der Welt davon abbringen. Nicht einmal jemand, den ich liebe.«
    »Selbst wenn Sie dafür mit einem Herzanfall bezahlen müßten? Selbst wenn es Sie umbringen würde?«
    »Selbst dann«, sagte er leise. »Vielleicht geht es ihr gut. Vielleicht ist sie zu einem Arzt gegangen, als sie wieder zu Hause war, wie sie es versprochen hat.«
    Entgegen dem Rat des Arztes nahm Broun die Arbeit an dem Lincolnbuch wieder auf, sobald er aus dem Krankenhaus entlassen worden war. »Ich werde dieses verdammte Buch zu Ende bringen, und wenn es mich umbringt«, sagte er und kratzte sich am unrasierten Kinn. Er versuchte, sich einen neuen Bart stehenzulassen.
    »Was es unter den gegebenen Umstände auch tun wird«, sagte ich. »Überlassen Sie mir wenigstens die Laufarbeit.«
    »Na schön«, sagte er, schickte mich zum Weißen Haus und ließ mich Notizen über das Gästezimmer mit den Purpurvorhängen machen, in dem Willie Lincoln gestorben war, über die Treppe, die Lincoln im Traum heruntergegangen war, und das Östliche Zimmer, in dem Willies Sarg und später der seines Vaters gestanden hatten.
    Ich hatte in dieser Zeit einen neuen Traum. Darin träumte ich, ich würde aufwachen und ein Weinen hören, aber als ich nach unten ging, sah ich niemanden. Neben der Tür des Wintergartens stand ein Wächter, und ich fragte ihn: »Wer ist im Weißen Haus gestorben?«, doch als er sich umwandte, um mir zu antworten, war es kein Wächter, sondern Annie. Sie trug ihren grauen Mantel und sah wundervoll aus, frisch und ausgeruht.
    »Geht es dir gut?« fragte ich sie. »Warst du beim Arzt?«
    »Beim Arzt?«
    »Beim Arzt«, sagte ich mit Nachdruck. »Die Träume waren eine Warnung.«
    »Ich weiß. Sie sollten uns vor Brouns Herzanfall warnen, aber wir haben sie nicht verstanden. Wir sind den vollkommen falschen Hinweisen gefolgt.«
    »Broun wird keinen neuen Herzanfall bekommen, nicht wahr?«
    Sie schüttelte den Kopf. »Die Träume haben aufgehört.«
    »Und dir geht es gut?«
    Sie schenkte mir ein Lächeln, ein reizendes Lächeln ohne Traurigkeit darin. »Mir geht’s prima.«
     
    Im April wurde Broun wegen Schmerzen in der Brust erneut ins Krankenhaus eingeliefert. »Ich habe darüber nachgedacht, was Annies Träume hervorgerufen hat«, sagte er, gegen die Kissen gelehnt. Er weigerte sich, die Krankenschwestern in seine Nähe zu lassen, aus Angst, sie könnten ihm wieder seinen Bart abrasieren, und er sah fürchterlich aus, schmuddelig und verkommen. »Erinnerst du dich an Dreamtime?«
    »Die Quacksalber in San Diego?«
    »Ja«, sagte er. »Erinnere dich an ihre Theorie, daß die Toten so lange friedlich schlafen, bis sie durch etwas gestört werden, so wie Willie Lincoln, als er ausgegraben wurde, und dann fangen sie zu träumen an. Nun, was wäre, wenn Lee etwas Ähnliches zugestoßen ist? Wenn man seinen Leichnam umgebettet hat und ihn das dazu gebracht hat, zu träumen?«
    »Lees Leichnam wurde nicht umgebettet«, sagte ich. »Er ist in der Kapelle von Lexington begraben.«
    »Vielleicht gab es einen anderen Anlaß für die Träume als die Angina. Vielleicht begannen sie, weil sein Leichnam irgendwie gestört wurde. Wurde seine Tochter Annie umgebettet?«
    »Nein. Sie ist immer noch
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