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Lincolns Träume

Lincolns Träume

Titel: Lincolns Träume
Autoren: Connie Willis
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langen Beinen, die übergroßen Hände auf die marmornen Lehnen gelegt. »Daß er über seine Träume gelogen hat.«
    »Gelogen?« fragte ich.
    »Er liebte die Union«, sagte er. »Er hätte alles getan, um sie zu retten, selbst wenn es bedeutet hätte, sich einen Traum über ein Boot und eine düstere Küste aus den Fingern zu saugen, um sich im Kabinett den Rücken freizuhalten.« Seine Worte hallten von den kalten Wänden wider. »Er würde seinen eigenen Sohn geopfert haben, um seine geliebte Union zu retten.«
    »Er hat Willie nicht geopfert«, sagte ich. »Er liebte Willie. Er hätte nie etwas getan, das ihn verletzen könnte. Willie starb an Typhus.«
    »Er hätte zu Hause sein und sich um ihn kümmern sollen, anstatt sich auf irgendeinem Schlachtfeld herumzutreiben«, sagte er.
    »Was meinen Sie eigentlich?« sagte ich. »Er hat sich nirgends herumgetrieben. Er war die ganze Zeit über an Willies Seite.«
    »Ich hätte niemals nach Kalifornien fliegen sollen«, sagte Broun, der immer noch Lincoln ansah. »Ich hätte zu Hause bleiben sollen.«
    »Es ist nicht Ihre Schuld«, sagte ich.
    Broun ließ sich von mir die Treppe hinunterhelfen. Unten angelangt, wandte er sich um und sah zum Memorial hoch. »Es ist schon länger als ein Jahr her, nicht wahr?« sagte er.
    »Anderthalb Jahre«, sagte ich.
    Ich hatte das Elavil fast aufgebraucht. Ich rief Brouns Arzt an und bat ihn, mir ein neues Rezept zu schreiben. »Können Sie damit besser schlafen?« fragte er mich. »Sie haben keine Nebenwirkungen festgestellt, oder?«
    »Nein«, sagte ich.
    »Ihr Bericht ist eingetroffen. Ich werde ihn durchlesen, und wenn alles okay ist, stelle ich es Ihnen aus. Übrigens, interessiert sich Broun immer noch für Lincolns Träume?«
    »Ich weiß es nicht.«
    »Nun, falls ja, hier ist ein Artikel von einem Psychiater, der ihn interessieren könnte, einem Dr. Madison. Er behauptet, man könne sich in ein Magengeschwür oder Asthma hineinträumen…«
    »Oder einen Herzanfall?«
    »Genau. Interessante Theorie.« Er las mir den Titel des Artikels und der Zeitschrift vor, in der er ihn gelesen hatte. »Hier steht, Dr. Madison habe an der Duke Universität promoviert. Sie gingen doch auch zur Duke, nicht wahr? Vielleicht kennen Sie ihn. Richard Madison?«
    Longstreet wurde nach dem Krieg recht erfolgreich, trotz der Kritik aus dem Süden, er trage die Schuld für die Niederlage bei Pickett’s Charge; er wurde Direktor einer Baumwollfabrik und anschließend Botschafter in der Türkei. Er veröffentlichte Artikel und ein Buch, in denen er sein Verhalten bei Gettysburg so lange rechtfertigte, bis er, glaube ich, zum Schluß selbst davon überzeugt war, daß er sich richtig verhalten hatte und keine Schuld trug an dem, was geschehen war.
    »Nein«, sagte ich. »Ich kenne ihn nicht.« Ich begann, zwei Elavil auf einmal zu nehmen.
    Nach dem Ausflug zur Lincoln Memorial hatte Broun das Lincolnbuch beiseite gelegt, die Recherchen und die Rohfassung in Kartons verpackt und sie mich auf den Speicher tragen lassen. Ich verbrachte die meiste Zeit in der Bibliothek. Ich versuchte immer noch herauszufinden, wo Willie Lincoln begraben lag, auch wenn Broun sich nicht mehr dafür interessierte. Ich sah alle Gräberregister der Städte rund um Washington durch und rief sogar in Arlington an, weil ich dachte, daß Commander Meigs Willie möglicherweise auf der Wiese vor Lees Haus begraben hatte.
    Mir ging das Elavil wieder aus, doch ich rief den Arzt nicht wieder an. Ich träumte nicht besonders häufig, und wenn ich träumte, dann nicht von Annie. Ich träumte von einem Ort, den ich nie zuvor gesehen hatte, einem Ort mit grünen Hügeln und weißen Zäunen. Aus irgendeinem Grund glaubte ich, er befände sich in West Virginia.
    Im Februar fand ich heraus, was mit Willie Lincoln geschehen war. Er war auf dem Oak Hill Friedhof in Georgetown beigesetzt worden, in der Gruft eines William Thomas Carroll, Beamter am Supreme Court und Freund der Lincolns.
    Die Information fand sich in der Biographie von Mary Todd Lincoln in einer Zweigstelle der Bibliothek, und als ich sie las, schlug ich das Buch zu, riß es an mich und rannte hinaus. Alarmglocken schrillten, und Kate eilte auf die Treppe hinaus und rief mir nach: »Jeff, ist mit dir alles in Ordnung?« Ich gab ihr keine Antwort. Ich stieg ins Auto und raste zum Friedhof hinaus.
    Die engen Wege zwischen den Gräbern waren so tief mit Schnee bedeckt, daß die meisten Grabsteine darin verschwanden, aber ich stieg
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