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Lincolns Träume

Lincolns Träume

Titel: Lincolns Träume
Autoren: Connie Willis
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bringen.«
    Sie senkte den Kopf, um in ihrer Handtasche zu kramen und steckte das Geld weg. »Ich werde nicht wissen, wie es dir ergeht«, sagte ich. »Versprich mir, daß du zu einem Arzt gehst.«
    »Wenn der Krieg zu Ende ist«, sagte sie. Sie nahm den gefalteten Zettel aus der Tasche und reichte ihn mir.
    Ich nickte. »Wenn der Krieg zu Ende ist.«
    Sie reichte hoch und strich mir das Haar aus der Stirn. »Ich war so froh, dich zu sehen«, sagte sie. Sie hob den Koffer mit ihrer linken Hand an, stellte ihn auf dem nassen Gehsteig ab, hob ihn mit der rechten hoch und ging die Treppe hinunter.
    Ich trat bis zum Rand der Plattform vor und stand dort lange genug, daß sie sich davonmachen konnte, hielt den gefalteten Zettel fest und blickte den Hügel hinauf zur Villa Arlington. Es begann zu schneien. Ich steckte den Zettel in meine Manteltasche und fuhr nach Hause.
    Ich las ihn erst am nächsten Tag, aus Angst, sie könnte die Adresse des Hauses mit der breiten Veranda und dem Obstgarten aufgeschrieben haben, und ich könnte, so wie Richard, versuchen, ihr zu folgen.
    Er war immer noch feucht. Ich faltete ihn vorsichtig auseinander, damit er nicht zerriß, und las ihn. Mit einem blauen Korrekturstift hatte sie geschrieben: ›Tom Tita, Villa Arlington.‹

 
16
     
Nach dem regnerischen Nachmittag in der Grace Church lebte Lee nur noch zwei Wochen. Die meiste Zeit über lag er schweigend da oder döste. Es regnete viel, und die Flüsse rund um Lexington schwollen an, bis es für Rob unmöglich war, zu seinem Krankenlager zu gelangen. Mehrere Nächte hindurch erhellte das Nordlicht den Himmel, so wie bei Fredericksburg. Lee sprach sehr wenig, wenn er auch manchmal während seiner Träume ein Murmeln von sich gab, doch als der Arzt zu ihm sagte: »Sie müssen schnell wieder auf die Beine kommen; Traveller steht schon so lange im Stall, daß er ein wenig Bewegung braucht«, da schüttelte er bloß den Kopf, unfähig zu sprechen.
Er starb am zwölften Oktober mit den Worten: »Brecht das Zelt ab«, und zog zu einem neuen Schlachtfeld weiter, auf das ihm Traveller nicht folgen konnte. Traveller ging mit geneigtem Kopf im Trauerzug mit, am Sattel und am Zaumzeug trug er Trauerflor. Anschließend brachte man ihn in seinen Stall zurück, wo man ihn das Ende abwarten ließ. Träumte er von Lee? Das frage ich mich. Träumen Pferde?
     
    ALS ICH NACH HAUSE KAM, saß Broun noch immer im Wintergarten auf dem Sofa. Der Siamkater war auf seinen Schoß gesprungen, und er hatte den Anrufbeantworter neben sich auf das Sofa gestellt, damit er den Kater streicheln konnte.
    Bei meinem Eintreten stand er augenblicklich auf und ließ die Katze auf den Boden plumpsen, kam zu mir und legte mir seinen Arm um die Schultern. Er fragte mich nicht danach, was geschehen war, und weil er es nicht tat, weil er nicht sagte: »Wie konntest du sie so gehen lassen? Sie ist krank. Sie braucht einen Arzt«, deshalb erzählte ich ihm, daß ich sie zu U-Bahnstation gebracht hatte, und dann erzählte ich ihm den Rest.
    Er sagte nicht: »Es sind ja nur Träume«, oder kam mit einer der Theorien an, die er in Kalifornien aufgeschnappt hatte. Er sagte lediglich ruhig: »Der Bürgerkrieg war ein schrecklicher Krieg. So viele junge Menschen… Ich hätte nicht nach Kalifornien fliegen sollen. Auf der Jagd nach Lincolns Träumen, wo ich hätte hier sein sollen.«
    »Es ist nicht Ihre Schuld«, sagte ich, ging nach oben und legte mich, obwohl es noch früh am Nachmittag war, ins Bett und schlief zwei Tage lang. Als ich aufwachte, war ein Elektriker da, der den Anschluß des Anrufbeantworters reparierte und wieder in der Wand befestigte.
    »Für den Fall, daß sie anruft«, sagte Broun.
    Ich brachte die Fahnen nach New York. Als ich zurückkam, begannen wir mit dem Roman über Lincolns Träume. Ich erledigte für Broun die Laufereien, fuhr ihn herum, schlug obskure Fakten nach, die niemanden interessierten, und träumte von Annie.
    Als wir in Fredericksburg waren, hatte ich überhaupt keine Träume gehabt, so als hätte Annie genug für uns beide geträumt, doch jetzt träumte ich beinahe jede Nacht, und in den Träumen ging es Annie gut. Ich träumte, sie hätte eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter hinterlassen. »Mir geht’s gut«, sagte sie. »Ich wollte nicht, daß du dir Sorgen machst.«
    »Wo bist du?« fragte ich, obwohl ich wußte, daß es bloß eine Nachricht war, daß sie nicht wirklich anwesend war. Ich hatte die Gewohnheit nie ablegen können,
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