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Lincolns Träume

Lincolns Träume

Titel: Lincolns Träume
Autoren: Connie Willis
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daß stellenweise das Gras zu sehen war. Sie hatten einen kleinen Bagger dazu benutzt, um das Grab auszuheben, und zu beiden Seiten Schnee aufgehäuft, der ebenfalls zu schmelzen begann und in trüben Bächen über das Gras und die Schneedecke floß.
    Die Arbeiter waren weggegangen, um zu Mittag zu essen oder eine Zigarette zu rauchen. Auf der gegenüberliegenden Seite des Grabes hatten sie unter einem Baum ein metallenes Clipboard liegengelassen, in dem ein Zettel eingeklemmt war. Es mußte der Name der Person daraufstehen, für die das Grab bestimmt war, und ich wollte zu dem Baum hinübergehen und ihn lesen, doch ich hatte Angst, daß ich es nicht wieder zurück schaffen könnte, daß der Boden nachgeben und daß ich auf die verstümmelten Toten treten würde.
    »Es hat etwas mit Arlington zu tun, und mit dem unbekannten Soldaten und einer Nachricht«, hatte Annie gesagt, um ein Verständnis der Träume bemüht. »Ich glaube, er hat versucht, zu sühnen«, und ich hätte sie, anstatt sie anzuschreien, fragen sollen: »Wodurch will er das erreichen?« Denn natürlich waren ihre Träume eine Art von Buße gewesen.
    Er hatte versucht, sie zu warnen. Seine Tochter Annie war gestorben, und er hatte nichts tun können, um sie zu retten. Er hatte keinen einzigen retten können, weder Stonewall Jackson noch die zerlumpten Soldaten, die er in die Schlacht zurückschicken mußte, noch die Konföderation. Aber er konnte Annie retten. Sie erinnerte ihn an seine Tochter, und sie war dreiundzwanzig Jahre alt. Er versuchte, sie zu warnen.
    Die Träume waren erschreckend, voller Bilder vom Tod und vom Sterben. Sie sollten sie erschrecken, damit sie einen Arzt aufsuchte, bevor es zu spät war, eine Warnung, so klar, so leicht zu deuten wie Lincolns Erscheinung, als er sich selbst im Sarg liegen sah, bloß verstand es keiner. Ausgenommen Annie, und sie hörte nicht darauf.
    »So war das mit den Menschen im Krieg«, hatte Broun gesagt, »sie verliebten sich, und sie opferten sich auf.« Sie waren Nacht für Nacht zusammen gewesen, Schlacht auf herzzerreißende Schlacht. Sie hätte sich in ihn verlieben müssen, nicht wahr? Und dann, obgleich sie wußte, daß die Träume eine Warnung waren, obwohl die Warnungen deutlicher und weniger erschreckend wurden und Lee sogar bereit war, wieder von Appotomax zu träumen, seinen eigenen Tod für sie zu träumen, um sie zu warnen, konnte sie ihn nicht verlassen.
    Sie war bis zum Ende bei ihm geblieben, wie sie es versprochen hatte, und wenn der Schnee ein bißchen weiter schmolz, würde ich ihren Körper sehen können; mit dem Gesicht nach unten, die Arme ausgestreckt, immer noch die Springfield umklammernd. Ich lehnte mich gegen den Bagger, unfähig, aufrecht zu stehen.
    Ich konnte die quadratischen weißen Eingänge der U-Bahn erkennen, die wie Grabsteine aussahen, und hinter ihnen, jenseits des Flusses, das quadratische weiße Grabmal des Lincoln-Memorials. Ich dachte an die Statue in seinem Innern, wo Lincoln saß, seine langen Beine vor sich aufgepflanzt und die Hände auf die Sessellehnen gelegt, und aussah wie ein Mann, der ein Kind verloren hat.
    Lincoln war zum Friedhof in Georgetown hinausgefahren und hatte die Gruft zweimal öffnen lassen und, glaube ich, sich davon zu überzeugen versucht, daß Willie wirklich tot war. Doch es hatte nicht wirklich geholfen. Es hatte nichts geholfen, und er konnte nicht schlafen, und sein Kummer machte ihn fast wahnsinnig. Bis ihm schließlich, in Brouns Worten, Willies Gesicht im Traum erschienen war, um ihn zu trösten. So wie mir Annies Gesicht erschienen war, obwohl sie längst tot war.
    Obwohl sie tot war.
    Ich brauchte lange, um zur Straße zurückzugelangen, wie eine Katze mit hohen Schritten zwischen den verschneiten Gräbern entlangstaksend, und noch viel länger, um nach Hause zu fahren. Als ich dort ankam, war Broun im Wintergarten und goß die afrikanischen Veilchen.
    Ich stand an die Tür gelehnt, immer noch im Mantel, und sah zu, wie das Wasser aus den bereits vollen Töpfen auf den Tisch überlief. Er wird nie wie Lincoln aussehen. Die Herzanfälle haben sein Gesicht älter und irgendwie trauriger gemacht, und sein Bart, der endlich, nach fast zwei Jahren, so aussieht, wie er es haben wollte, ist fast weiß.
    Ich fragte mich, warum mir das nicht schon früher aufgefallen war, warum ich statt dessen das Bild festgehalten hatte, das er an dem Abend des Empfangs geboten hatte, das eines gerissenen, verrufenen, wenig vertrauenerweckenden
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