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Lincolns Träume

Lincolns Träume

Titel: Lincolns Träume
Autoren: Connie Willis
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Nicht Longstreet.
    »Laß sie los«, sagte ich. Richard wandte sich mir zu und sah mich an. »Wir brauchen keinen Krankenwagen. Wir haben schon mit einem Arzt gesprochen. In Fredericksburg. Dr. Barton.«
    »Was hat er gesagt? Warum hat er sie nicht in ein Krankenhaus eingewiesen?«
    »Das hat er. Er nahm sie mit und machte ein EKG und Bluttests. Er fragte sie, ob sie irgendwelche Medikamente genommen hätte, und sie sagte ihm, Elavil.« Ich wartete ab, wie er darauf reagierte.
    »Davon hast du am Telefon nichts gesagt.«
    »Doktor Barton wollte wissen, warum ihr jemand bei Herzbeschwerden Elavil verschrieben hat.«
    Annie und Broun standen vollkommen unbewegt und beobachteten ihn. Es war so still im Raum, daß ich hören konnte, wie das Wasser vom Tisch der afrikanischen Veilchen auf den Boden tropfte.
    »Ein mildes Sedativum war bei der Schlaflosigkeit der Patientin indiziert«, sagte er mit seiner Onkel-Doktor-Stimme. »Der Bericht von Annies Hausarzt erwähnte nichts weiter als ein funktionelles Herzgeräusch, und ihr EKG hat das bestätigt. Es gab keine Symptome, die auf eine Herzerkrankung hindeuteten, und Elavil ist nur in Fällen von hochdosierter und langandauernder Einnahme kontraindiziert. Ich habe eine milde Dosis verordnet, die Patientin sorgfältig beobachtet und das Medikament sofort wieder abgesetzt, als es keinen Einfluß auf ihre Symptome erkennen ließ.«
    »Ihre Symptome«, sagte ich. »Ihre Träume, meinst du wohl?«
    »Ja«, sagte er. Er ließ Annies Handgelenk immer noch nicht los.
    »Ich habe Dr. Barton nach den Träumen gefragt«, sagte ich. »Er meinte, er wüßte nicht, wodurch sie hervorgerufen werden, bis er heute morgen das Ergebnis ihres Bluttests sah. Es wurden Spuren von Thorazin darin festgestellt. Er meinte, wahrscheinlich wäre das Thorazin für die Träume verantwortlich. Er fragte Annie danach, wer ihr das Thorazin verschrieben habe, und sie sagte, niemand. Sie sagte, sie wüßte nicht, wovon er redete, und sie hätte nie Thorazin eingenommen.«
    »Thorazin war indiziert«, sagte er. »Es wird in Fällen von Schlafstörungen routinemäßig verschrieben.«
    »Dr. Barton meinte, Thorazin würde Geisteskranken auf geschlossenen Abteilungen verordnet, und nicht Leuten, die schlecht träumen.«
    »Darum geht es also, oder? Du glaubst immer noch, daß sie Robert E. Lees Träume träumt.«
    »Dr. Barton meinte, es sei verbrecherisch, wenn ein Arzt einem Patienten Medikamente ohne dessen Wissen verabreicht. Er meinte, ein Arzt könnte deswegen seine Zulassung verlieren. Stimmt das, Richard? Könntest du deine Zulassung verlieren?«
    »Du Bastard«, sagte mein alter Stubenkamerad und ließ Annies Handgelenk los. »Ich habe nur versucht, dir zu helfen, Annie. Das war meine Pflicht als Arzt.«
    »Erzähl du mir nichts von Pflicht«, sagte Annie, ihren Arm wie ein Baby an ihrer Brust wiegend, »jedenfalls so lange nicht, wie du mich nicht meine tun läßt.«
    Broun gab ein Keuchen von sich. Sein Gesicht war unter dem Bart leichenblaß. Er sah krank aus, wie ein Schriftsteller, der die Worte, die er niedergeschrieben hat, plötzlich in Realität verwandelt sieht.
    »Rufen Sie den Krankenwagen«, sagte Richard zu Broun.
    »Nein«, sagte Broun. »Sie träumt Robert E. Lees Träume.«
    »Du hast es ihm ebenfalls eingeredet, nicht wahr?« sagte er zu mir. »Ihr seid alle verrückt, wißt ihr das?«
    »So wie Lincoln?« sagte Broun.
    »Rufen Sie einen Krankenwagen«, sagte Richard, und Broun wandte sich um und stolperte die Treppe hinauf.
    »Ich habe Annie gesagt, daß ich ihr Thorazin verschreiben wollte und sie über die Nebenwirkungen informiert«, sagte der Onkel Doktor. »Sie hat die erste Dosis selbst eingenommen. Thorazin beeinträchtigt manchmal das Kurzzeitgedächtnis des Patienten.«
    »Nach dem Bürgerkrieg schrieb Longstreet lange, komplizierte Briefe darüber, daß er Lee bei Pickett’s Charge nicht hängengelassen hatte«, sagte ich, »und warum alles Lees Schuld war. Aber es funktionierte nicht. Es gab zu viele Augenzeugen.«
    »Soll das etwas aus Lees Träumen sein?«
    »Nein«, sagte ich. »Das soll eine Warnung sein. Ich habe zwei Kapseln Thorazin und alle Nachrichten, die du auf dem Anrufbeantworter hinterlassen hast. Du läßt sie in Ruhe, oder ich schicke sie deinem Chef, Dr. Stone, ins Schlafinstitut. Ich werde ihm sagen, daß du einer Patientin ohne deren Wissen Thorazin gegeben hast. Ich werde ihm sagen, daß du einer Patientin mit einem Herzleiden Elavil gegeben
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