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Lilly unter den Linden

Lilly unter den Linden

Titel: Lilly unter den Linden
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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und Altstoffe sammeln durften, wie sie sich gewundert hatten, dass die Großen so gar nicht fleißig waren – bis diese ihnen am Ende des Nachmittags unter Drohungen sämtliche Flaschen, Dosen und Papierbündel klauten, die sie gesammelt hatten! Ein unglückliches Häuflein heulender Jungpioniere rannte mit leeren Händen nach Hause. So viel zu Mamis unvergesslichem ersten Arbeitseinsatz für die sozialistische Gesellschaft.
    Von den Pionieren wusste ich weiterhin, dass sie je nach Alter blaue oder rote Halstücher trugen, sich ihr »großes Pionierehrenwort« gaben und bei diversen Anlässen Gelegenheit bekamen, laut ihre Parole zu brüllen: »Immer bereit!« Ich fand den Spruch vielseitig einsetzbar, hatte ihn mir gemerkt und benutzte ihn gelegentlich. Überhaupt, diese ganze Pionier-Geschichte gefiel mir: eine große, staatlich organisierte Kinderbande, ein gigantisches Fähnlein Fieselschweif – toll!
    »Erzähl doch noch mal die Geschichte mit der Altstoffsammlung!«, bettelte ich, um Mami einen Gefallen zu tun.
    Mami machte eine kleine Armbewegung, die eine gewisse Ungeduld verriet. »Aus dem Alter bist du doch nun wirklich heraus!«, rügte sie mich, und einen Augenblick fürchtete ich, dass ich ihr die Stimmung verdorben hatte und sie mich auf der Stelle ins Bett schicken würde, um ihre Erinnerungen nur Pascal zu enthüllen. Unwillkürlich kuschelte ich mich ein wenig enger an sie, denn sonst hätte ich vielleicht nie erfahren von Lena, Rolf und Bernd, von dem Streit, der die besten Freunde für immer getrennt hatte, und von Mamis letzten beiden Jahren in der DDR.
    Begonnen hatte alles an jenem Wintertag, als meine Mutter im Krankenhaus aus dem künstlichen Dämmerschlaf erwachte, in den man sie versetzt hatte, weil sie nicht aufhörte, nach ihren Eltern zu schreien. Denn es konnte doch nur ein böser Traum sein, es durfte einfach nicht wahr sein, dass die beiden reglos und stumm nur wenige Handbreit von ihr entfernt im Auto saßen und ihr nicht mehr antworteten. Mami war zwischen Vorder- und Rücksitzen so unglücklich eingeklemmt, dass sie sich nicht bewegen, geschweige denn befreien konnte, aber sie sah, dass meine Großmutter die Augen weit geöffnet hatte und mein Großvater über dem Steuer zusammengesunken war. Meine Mutter, siebzehn Jahre alt, hatte irgendwo einmal gehört, dass auch Bewusstlose oft noch in der Lage waren, Stimmen zu verstehen. Zweieinhalb Stunden lang redete sie mit den beiden, machte ihnen Mut und berichtete ihnen, wie weit die Retter schon vorangekommen waren, dass sie Äste und Sträucher weggeschnitten hatten und sich nun zum Auto vorarbeiteten, es konnte sich nur noch um Minuten handeln … Meine Mutter redete noch mit ihren toten Eltern, als sie auf der Bahre festgeschnallt und in den Krankenwagen geschoben wurde. Erst als man die Tür hinter ihr zuwarf, begann sie zu schreien.
    Es erwies sich als nicht einfach, die ältere Tochter der Verunglückten aufzuspüren, denn diese war zwar offiziell noch in der Wohnung ihrer Eltern gemeldet, lebte aber eigentlich schon bei ihrem Freund, dem Physikstudenten Bernd Hillmer. Erst einen Tag nach dem Unfall saß die fünfundzwanzigjährige Lena Engelhart verstört, aber aufrecht am Bett ihrer jüngeren Schwester, hielt Ritas Hand und versprach ihr, von nun an für sie da zu sein und ihr die Eltern zu ersetzen, so gut sie es vermochte. Falls Lena Zweifel an ihren eigenen Worten hegte, ließ sie es Rita zumindest nie merken.
    Dabei hatten sich die beiden Schwestern bis zu diesem Zeitpunkt nicht einmal besonders nahe gestanden – der Altersunterschied von acht Jahren war einfach zu groß. Lena war fast erwachsen, als Rita die Milchzähne ausfielen, und bereits aus dem Haus, als Rita das Alter erreicht hatte, in dem sie auf annähernd gleichem Niveau miteinander hätten reden können. Falls sich überhaupt ein Gesprächsstoff gefunden hätte, denn ihre Interessen lagen so weit auseinander, dass es Rita fast unglaublich schien, dass sie derselben Familie entstammten.
    In diesem Winter bezweifelte sie ohnehin, dass es noch irgendetwas gab, für das sie jemals wieder Interesse würde aufbringen können. Das Bild der toten Eltern war unauslöschlich, ging ihr nicht mehr aus dem Kopf, es war, als beanspruche es jeglichen Platz darin und ließe nichts anderes mehr zu. Doch die Ärzte versicherten, dass sie den Unfall ohne bleibende Schäden überstanden hatte, ohne sichtbare Beeinträchtigungen mit Ausnahme einer Halsstütze, die nach
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