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Lilly unter den Linden

Lilly unter den Linden

Titel: Lilly unter den Linden
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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dem linken Bein wippte. Es war längst dunkel und ich wunderte mich, dass mich niemand hineinschickte. Pascal zündete Kerzen an, das ganze Terrassengeländer entlang, und die beiden tranken Rotwein aus großen Glaskelchen. Rotwein in Maßen, hatte mir Pascal erklärt, war gut für Mamis Immunsystem, ebenso wie die herbe Landluft, um derentwillen er – gegen unseren anfänglichen Protest – den Urlaub auf dem Bauernhof gebucht hatte.
    Der Widerschein der Kerzenflammen tanzte im Rotweinglas in Mamis Hand und hatte eine beinahe hypnotische Wirkung; mir fielen fast die Augen zu. Es schien ein besonderer Abend zu werden und ich kuschelte mich tiefer in Mamis Arm. Sie wirkte nachdenklich und es dauerte eine ganze Weile, bis sie anfing zu sprechen.
    »Treckerfahren habe ich mit fünfzehn gelernt«, sagte sie. »Wir hatten eine riesige LPG bei uns, mit Viehzucht und allem, und meine Freundin Verena und ich haben dort in der neunten Klasse unser Pflichtpraktikum in der Produktion gemacht. Es war mitten in der Erntezeit und fürchterlich anstrengend, aber zwischendurch durfte ich mich auf den Trecker setzen und fahren und war völlig verblüfft, wie einfach es war. Ich sehe es noch vor mir … Strohreihen bis zum Horizont und darüber die flirrende Hitze und die Stechmücken.« Mami blickte so intensiv in ihr Glas, als ob sie gerade herausgefunden hätte, dass Wein die Eigenschaften einer Entwicklerlösung besitzt und auf wundersame Weise Bilder hervorbringen kann. »Später waren Lena und ich jedes Jahr beim Ernteeinsatz der FDJ dabei. Wir fuhren ins Heu, zur Apfelernte oder in die Kartoffeln. Dreißig Pfennig bekamen wir pro Korb, oder waren es zwanzig? Jedenfalls gab es schulfrei dafür und das allein war die Sache wert.«
    »Mami hat nämlich die Schule gehasst !«, sagte ich zu Pascal, als ob er es nicht wüsste. Aber ab und zu musste ich ihn einfach daran erinnern, dass ich meine Mutter schon viel länger kannte als er! »Was ist LPG?«, wollte ich wissen.
    »Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft«, übersetzte Mami und blickte auf. »Ein Großbetrieb, zu dem sich mehrere Klein- und Mittelbauern zusammenschließen, damit sie produktiver arbeiten können. Und die FDJ ist die Freie Deutsche Jugend. Lilly, wenn ich nicht gerne von der DDR erzähle, dann hat das nichts damit zu tun, dass ich mich schäme«, fügte sie unvermittelt hinzu. »Es hat damit zu tun, dass die Leute es sowieso nicht verstehen und dass sich die meisten auch gar nicht dafür interessieren.«
    Wenn ich ehrlich sein soll, interessierte die DDR auch mich nicht besonders. Wie alle Jugendlichen meines Alters war ich mit der Trennung der mir bekannten Welt in Ost und West aufgewachsen. Ich wusste, dass russische Raketen auf uns gerichtet waren und amerikanische Raketen sie in Schach hielten, dass Deutschland seit dem letzten Krieg in zwei Teile geteilt war, die nun unterschiedlichen Seiten eines neuen Konflikts angehörten. Gedanken machte ich mir darüber nicht. Mir genügte es zu wissen, dass die BRD, in der ich lebte, Glück gehabt hatte und dem hellen, freundlichen Westen zugeschlagen worden war, in dem man die Kriegsschäden restlos beseitigt hatte, sich ungehindert bewegen und in Wohlstand aufsteigen konnte. Von der DDR, dem Land jenseits der Grenze, hörte man nur so viel, um zu wissen, dass es dort kalt, grau und dunkel geblieben war und dass die Menschen im »Sozialismus«, in einer Art erzwungener Armut lebten. Es war ein Land, in das niemand, den ich kannte, in die Ferien fuhr. Ich nahm an, dass wir die DDR irgendwann einmal in der Schule behandeln würden, und damit konnte man es von mir aus gut sein lassen.
    Aber das sagte ich natürlich nicht, denn ich spürte, dass Mami ihre Vergangenheit wichtig war, selbst wenn sie nicht oft darüber sprach. Und wie sie darüber sprach, das war mir auch nicht entgangen: Nie redete sie von »drüben«, wie man die DDR von Westdeutschland aus gern bezeichnete. Meine Mutter sagte: »bei uns«.
    Offenbar hatte die nachmittägliche Traktorfahrt Erinnerungen geweckt und sie in Erzählstimmung versetzt. Das kam, seit Pascal zu uns gehörte, für meine Begriffe viel zu selten vor und musste bis zum Letzten ausgekostet werden, selbst wenn es dabei um die DDR ging und ich zu wissen glaubte, dass ich ihre interessantesten Geschichten aus dieser Zeit längst kannte: etwa wie sie und ihre Klassenkameraden als siebenjährige »Jungpioniere« zum ersten Mal mit einem Handwagen von Haus zu Haus ziehen
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