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Lilly unter den Linden

Lilly unter den Linden

Titel: Lilly unter den Linden
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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Dir wird es einmal schwer fallen. Dieser ganze Streit zeigt, dass sie Recht hat. Du musst kleinere Schritte machen.« Sie zögerte einen Moment und setzte hinzu: »Glaubst du nicht, dass wir es miteinander auch sehr lustig haben können …?«
    Lustig war das richtige Wort. Mit Meggi zusammenzuleben war ein Feuerwerk von Spaß, von spontanen Unternehmungen und neuen Freunden, die sich bei uns die Klinke in die Hand gaben.
    Mein Bekanntenkreis erweiterte sich schlagartig. Plötzlich wurde ich auf Partys eingeladen, hatte Angebote für gemeinsame Reisen, saß beim Mittagstisch in der Mensa nicht mehr allein. Und wenn ich etwas anderes wollte – ein paar Stunden wieder Kind sein, eine liebevoll gekochte gemeinsame Mahlzeit, einen ruhigen Liegestuhl im Garten –, brauchte ich nur über die Brücke zu gehen. Ich hatte einen Schlüssel, ich war dort zu Hause, auch wenn ich woanders schlief. Lena und Onkel Rolf hatten in allem Recht gehabt.
    »Man muss weggehen können und doch sein wie ein Baum«, heißt es in einem Gedicht von Hilde Domin, das Lena mir abgeschrieben und eingerahmt hat, »als bliebe die Wurzel im Boden, als zöge die Landschaft und wir ständen fest …« Das Gedicht hängt jetzt in meiner Wohnung in Köln, damit ich nicht vergesse, dass ich – dank Lena – eine Wurzel habe, die eine ganze Menge aushält. Obwohl es nicht ohne Tränen auf beiden Seiten abging, als ich dann tatsächlich fortziehen musste.
    Und nun komme ich nach nur einer Woche zurück, ein lebendig gewordenes Zeitschriftencover aus den Siebzigern, mit einem neugierigen Doktor der Vor- und Frühgeschichte im Schlepp!
    Der Doktor ist offenbar ein Freund sich langsam steigernder Spannung: Er will erst das alte Haus sehen, ob mit oder ohne Licht im Fenster, das Auto in der alten Straße parken und zu Fuß mit mir über die Brücke gehen. Aufmerksam, wie er ist, hält er an der Tankstelle kurz vor der Stadt und kommt mit einer großen Tüte Sonntagsbrötchen und einer druckfrischen Zeitung zurück. Onkel Rolf, so viel steht hiermit bereits fest, wird ihn lieben.
    In unserer alten Straße ist es schwierig geworden, einen Parkplatz zu finden, und so lotse ich Gregor in die Seitenstraße, in der Meggi ihre häufig wechselnden Altwagen abstellt. Meggi selbst können wir noch nicht herausklingeln, ihre Klappfensterläden sind – wie fast überall ringsum – noch fest geschlossen. Aus der Stadt wehen Glockenschläge hinüber: acht Uhr.
    Wir schlendern mitten auf der Straße über nasses Kopfsteinpflaster am alten Haus, an Trudis Hundewiese, am ehemaligen Konsum vorbei, der heute eine Lotto-Annahmestelle ist. Ich versuche, alles mit Gregors Augen zu sehen: den schläfrigen Charme der größtenteils noch unrestaurierten Hausfassaden, die dicht belaubten Bäume auf der anderen Straßenseite, den kleinen Bach auf seinem Weg in die Unterstadt und die Fußgängerbrücke mit ihrem schmalen Eisengeländer. Es ist der Teil der Stadt, der sich seit damals am wenigsten verändert hat, der Teil, den ich am meisten liebe. Ich bin so froh, dass ich Gregor einfach an der Hand nehme. Er sagt nichts, aber es ist nicht schwer zu erkennen, wie sehr ihm das und alles andere hier gefällt.
    Auf der Brücke bleiben wir stehen, stützen uns aufs Geländer und blicken in das vom nächtlichen Regen aufgewühlte Wasser. Der Regen liegt noch schwer über der Stadt, knistert in den Zweigen und glänzt auf der Wiese. Die Brücke hängt im grauweißen Dunst, Nebel beinahe, die Sonne wird es heute schwer haben. Wir sind fast allein auf der Welt, nur eine einsame Spaziergängerin im blauen Wachsmantel stapft am Bach entlang in unsere Richtung, gefolgt von einem großen tatterigen Hund. Energische Schritte, Silberfäden im blonden Haar, eine Hand schwenkt fröhlich die Hundeleine …
    »Da ist sie ja!«, sagt Gregor verblüfft.
    Ich blinzele. Er hat Recht. Aber woher weiß er …?
    Egal! Ich löse mich vom Brückengeländer und laufe los, bin wieder dreizehn, im Ferienkindalter, die Stöckelsandalen an meinen Füßen verwandeln sich in Siebenmeilenstiefel. Zu Hause! Lena strauchelt einen Moment vor Überraschung – ist es Lilly oder Rita, die da auf sie zustürzt? Kann ich es selbst mit Sicherheit sagen? Vielleicht sind es immer Mami und ich, die Lena umarmen. Vielleicht habe ich ihr Leben in manchen Punkten ganz einfach weitergelebt.
    Ganz sicher weiß ich nur, dass aus einem Ende ein Anfang werden kann und dass der meine einmal darin bestand, auf einen jener
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