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Lilly unter den Linden

Lilly unter den Linden

Titel: Lilly unter den Linden
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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mache ich es wie an dem Abend, an dem ich mit Lena auf unserem Balkon in der Isestraße stand. Ich kneife die Augen ein wenig zu, bis ich meine Umgebung nur noch ganz verschwommen sehe, und dann ist es, als wäre ich wieder dreizehn Jahre alt und könnte über den Platz hinweg, am anderen Ende der Straße, Lenas Haus erkennen und das Licht, dem ich bis dorthin gefolgt bin …«
    Gregor fragt: »Wohnt sie noch da?«, und blickt zu meiner Freude ein wenig enttäuscht, als ich den Kopf schüttle.
    »Sie leben noch immer im selben Teil der Altstadt, aber auf der anderen Seite des Baches, wo die Einfamilienhäuser Gasheizung, zwei Bäder und einen kleinen Garten haben. Onkel Rolf hat sehr lange gebraucht, Lena von dem Umzug zu überzeugen. Ihr sollen die Tränen über die Wangen gelaufen sein, als sie als Letztes ihre Klaviernoten über die Brücke nach drüben getragen hat. Aber inzwischen lieben wir natürlich auch ihr zweites Haus heiß und innig, denn schließlich kommt es nicht darauf an, wo es steht, sondern wer darin wohnt, nicht wahr? Außerdem können wir jetzt sogar einen Hund halten! Er heißt Tassilo, stand eines Tages einfach im Garten und tat, als gehörte er zu uns. Seine Pfoten waren ganz wund, als wäre er unendlich weit gelaufen, um uns zu finden.«
    Es ist still geworden im Museum. Die Bar ist längst geschlossen, die Musik verstummt, hier und da sitzt noch ein versprengtes Grüppchen Kollegen an einem Tisch, auf den Treppenstufen oder in einer Fensternische. Noch nie habe ich an einem einzigen Abend so viel geredet oder hat mir jemand so lange zugehört.
    »Es ist halb drei!«, sage ich, plötzlich bleischwer vor Müdigkeit. »Die restlichen dreizehn Jahre kannst du ja im Geschichtsbuch nachlesen.«
    Ich stehe auf, er bleibt sitzen. »Lilly«, sagt er mit einem Mal, »es ist Sonntag. Wenn du willst, können wir zum Frühstück in Jena sein.«
    »Wie …?«
    »Es ist heute kein Problem mehr, hast du das vergessen? Mein Auto steht vor der Tür.«
    »Du meinst … einfach so?«
    Ich schaue sprachlos an mir hinunter – entlang an den weißen Steinchen auf Mamis Kleid bis hinab auf die hochhackigen Sandaletten, dann auf die elegante kleine Handtasche, in der sich nichts befindet außer meinem Portmonee, einer Packung Papiertaschentücher und dem Schlüssel zu der winzigen Wohnung, die ich mir von meinem Volontärsgehalt leiste. »Worauf warten wir?«, meint Gregor. »Im Auto erzählst du mir den Rest. Komm schon, was ist denn dabei? Du willst mir doch nicht erzählen, dass du deine jugendliche Spontaneität schon verloren hast?«
    Ich gehe vor ihm durch den Haupteingang, die Museumstreppe hinunter, leicht schwindlig vor Müdigkeit und schaudernd vor plötzlicher nächtlicher Kühle, aber gleichwohl unter dem glasklaren Eindruck der unerfreulichen Situation, die mir höchstwahrscheinlich nun bevorsteht. Ich sehe es schon kommen: Gleich wird er fragen, wo ich wohne und ob er mich nach Hause begleiten darf. Selbst schuld, beschimpfe ich mich im Stillen. »Nein, Gregor, dass du dir vier Stunden mein Leben angehört hast, heißt nicht, dass ich dich mit nach Hause nehme«, werde ich sagen müssen wie eine dumme Gans.
    Über den anderen, angeblichen Einfall denke ich gar nicht erst nach, das kann nicht sein Ernst sein. Obwohl sein Auto kein aufschneiderischer Spielzeugflitzer ist, sondern ein solider, Vertrauen erweckender blauer Golf. Obwohl wir durch eine stille Stadt mit schlafenden Ampeln hinaus zur A3 fahren, ohne dass er mich nach dem Weg zu meiner Wohnung fragt. Obwohl …
    »Du bist verrückt«, sage ich matt.
    »Ich möchte euch gern eine Freude machen, Lilly. Wann würdest du sie sonst wiedersehen?«
    »Nun … im September. Ich kann ja schlecht gleich wieder Urlaub nehmen.«
    »Dann Hand aufs Herz: Hast du Sehnsucht oder nicht?«
    »Fürchterlich«, gestehe ich nach kurzem inneren Kampf. Meine Stimme zittert. Diese ganze erste Woche habe ich mir nicht erlaubt, an zu Hause zu denken.
    Da wirft mir Gregor einen so liebevollen Blick zu, dass mein Herz zwei Schläge aussetzt. »Deine Geschichte hat mich richtig froh gemacht«, sagt er. »Erzählst du mir, was danach aus euch geworden ist, oder willst du erst einmal eine Runde schlafen?«
    »Was ist mit dir?«
    »Notorischer Nachtmensch. Ich lege mich lieber heute Mittag in euren Garten. Ihr habt doch jetzt einen Garten, sagst du?«
    Im Seitenfenster sausen als schwarze Schatten die Bäume vorbei, Leuchtpfosten, ein Hinweisschild zu einer
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