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Lilly unter den Linden

Lilly unter den Linden

Titel: Lilly unter den Linden
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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Raststätte, vor uns liegen die Rücklichter eines einzelnen, erst weit entfernten, dann immer näheren Reisebusses. Schlafen kann ich immer noch, jetzt muss ich erst einmal dafür sorgen, dass mein Fahrer wach bleibt. Ich streife die Schuhe ab, kuschele mich in die Decke, die Gregor mir aus dem Kofferraum geholt hat, und erzähle weiter. Nach Hause, zum Frühstück! Ich kann es noch nicht fassen.
    Mehr als anderthalb Jahre hat es nach meiner Flucht in den Osten gedauert, bis ich endlich für immer bei meiner Familie bleiben und in Jena zur Schule gehen durfte – eine Zeit der Hochspannung, deren Vorboten bereits unseren idyllischen Zeltplatz am Balaton im Sommer 1989 gestreift hatten.
    Schnell hatte es sich herumgesprochen: Die Grenze zwischen Ungarn und Österreich steht offen! Gehen oder bleiben – auf einmal schien sich jeder entscheiden zu müssen. Verwaiste Zelte, lange Reihen von Trabis und Wartburgs, der Stolz ihrer Besitzer, herrenlos zurückgelassen am Wegrand nahe der Grenze … Ganze Familien verschwanden von einem Tag auf den anderen oder blieben und zerstritten sich darüber.
    Als Lena Ende September nach Hamburg kam, um über Details meiner Übersiedlung in die DDR zu sprechen, hatten Scharen von DDR-Bürgern den Sommerurlaub in Ungarn und der Tschechoslowakei zur Flucht in den Westen genutzt. In Prag stürmten und besetzten fast fünftausend Menschen die bundesdeutsche Botschaft, bis man ihnen nach langem Tauziehen die Ausreise gestattete. Als die Sonderzüge mit diesen Überglücklichen ohne zu halten durch die DDR in die Bundesrepublik fuhren, musste das Militär entschlossen einschreiten, um Menschen daran zu hindern, während der Fahrt aufzuspringen.
    Man müsse die Situation abwarten, gab man Lena vorsichtig zu verstehen, man könne mich nicht in ein Land schicken, in dem möglicherweise Bürgerkrieg drohe. Ob nicht lieber sie in der BRD bleiben wolle? Der Nachzug ihrer Familienangehörigen sei vielleicht sogar schon innerhalb weniger Monate zu regeln …
    Als ich mich nach sieben ergebnislos verstrichenen Tagen ein weiteres Mal von meiner Tante verabschiedete, hatte ich solche Angst um sie, dass ich mich auf der Bahnhofstoilette übergab. Die Frage, ob sie bleiben wollte, hatte ich ihr nicht gestellt, merkte ich doch selbst, wie begierig Lena darauf war, in dieser Situation nach Hause zurückzukehren. Ich musste daran denken, was Mami mir von ihrer Vergangenheit erzählt hatte, von der vergeblichen Hoffnung der jungen Leute auf Veränderung. Konnte es sein, dass Lena nur darauf gewartet hatte, dass in ihrem Land endlich etwas geschah – und sei es noch so gefährlich?
    Bang verfolgte ich im Fernsehen die heimlich aus dem Land geschmuggelten Bilder jener atemlosen Wochen, die aus Lichterprozessionen und Mahnwachen zu bestehen schienen, jener Wochen, die als »Novemberrevolution« in die Geschichte eingehen und schließlich in Berlin die Mauer zum Einsturz bringen sollten. Ein glücklicher Ausgang, den niemand ernsthaft vorhersehen, vielleicht nicht einmal wirklich fassen konnte. Jedes winzige Licht in einer Montagsdemonstration stand für einen Menschen, der sein Leben riskierte.
    Ein Knistern lag über dem Land, und zwischen Lena und Onkel Rolf knallte es sogar. Meine Tante kam abends spät nach Hause, nahm an Diskussionen und Treffen teil, und in der Küche gab es jede Nacht gedämpft-gereizte Debatten, weil Onkel Rolf befürchtete, dass die bislang zurückhaltende Reaktion des Politbüros jeden Augenblick umschlagen konnte. Aber zu guter Letzt marschierte auch er mit einer Kerze in der Hand durch die Stadt, und ich bekam eine Gänsehaut, als Katrin mir erzählte, wie überall aus den Häusern Menschen kamen und sich mit dem Ruf »Wir sind das Volk!« und »Wir bleiben hier!« der Prozession anschlossen.
    Ich hatte schon geschlafen, als die Nachtpförtnerin, was sie noch nie zuvor getan hatte, hinauf in die Wohnetage gelaufen kam und mich wachrüttelte: »Lilly, komm mit, das darfst du nicht verpassen!« Sie war vollkommen aufgelöst und hatte geweint, und ich war schlagartig hellwach und rannte barfuß mit ihr an die Pforte hinunter, wo wie immer um diese Zeit ihr kleiner Fernseher lief.
    Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte, aber ganz gewiss nicht Bilder der überglücklichen Berliner, die auf der Mauer tanzten und frenetisch jeden einzelnen Bürger der DDR feierten, der in diesen ersten Stunden der Zeitenwende mit seinem Trabi, seinem Fahrrad oder zu Fuß die gefallene Grenze
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