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Lilly unter den Linden

Lilly unter den Linden

Titel: Lilly unter den Linden
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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entsetzt – aber schlau. Sie wählten, ganz die geübten Diplomaten, eine Strategie der Zurückhaltung: Wenn sie Meggi scheinbar gewähren ließen, würde sie schon von selbst zur Vernunft kommen! Vier Jahre lang muss man in diesem Haushalt nichts anderes getan haben, als um den heißen Brei herumzureden.
    Nur ein einziges Mal zeigte Meggis Mutter Schwäche: als sie Lena bei einem Besuch in Jena anvertraute, sie und ihr Mann hätten »natürlich andere Hoffnungen« für ihre Tochter. Meine Tante war selber diplomatisch genug, darauf nicht näher einzugehen. Erst als Meggi, neunzehn Jahre alt, ein Jenaer Vorlesungsverzeichnis offen herumliegen ließ und anfing, Ikea-Regale in ihren Polo zu laden, wurde ihren Eltern klar, dass sie wirklich zu tun im Begriff war, was sie schon seit Jahren ankündigte.
    Meggi studiert Jura und will Richterin werden, während ich mich fast sechs Jahre lang mit Geschichte und Archäologie abgeplagt habe und nach »nur« einem Dreivierteljahr Stellensuche nun endlich ins Arbeitsleben eingetreten bin. Unsere kleine WG, in der Meggi jetzt ohne mich wohnt, liegt in unserer alten Straße, nur ein paar hundert Meter entfernt von Lena und Onkel Rolf, die froh waren, eine Zeit lang wenigstens noch eines ihrer drei Kinder in der Nähe zu haben.
    Unsere kleine WG! Wer hätte gedacht, dass ich einmal diese liebevollen Worte aussprechen würde? »Unsere kleine WG« war nämlich der Anlass für die tiefste und bitterste Auseinandersetzung, die ich jemals mit Lena gehabt habe. Ich war wie vom Donner gerührt, als ich erfuhr, dass sie nicht die Absicht hatte, mich in ihr neues Haus mitzunehmen. Sie versuchte es mir so schonend beizubringen, dass ich es erst nach Wochen kapierte: Meine Tante und mein Onkel hielten es für richtig, dass ich »einen ersten Schritt hinaus« tat. Ein paar Häuser weiter sei eine kleine Wohnung frei geworden – zweieinhalb Zimmer, Küche, Bad – und Meggi wolle doch schon lange heraus aus dem Studentenwohnheim. Sie, Lena, habe schon einmal einen Besichtigungstermin für uns ausgemacht.
    Ich muss sie daraufhin sehr lange und sehr entsetzt angestarrt haben – lange genug, dass ihre demonstrativ zur Schau getragene Selbstsicherheit Risse bekam. »Es ist nicht so, dass wir dich loswerden wollen«, sagte sie zittrig und machte es dadurch noch ein wenig schlimmer, denn der Gedanke wäre mir von selbst erst zwei Minuten später gekommen. »Aber irgendwann wird es doch sowieso passieren, und auf diese Weise können wir alle schon einmal ein bisschen üben.«
    »Moment«, erwiderte ich und versuchte zu lachen. »Seit Wochen reden wir über nichts anderes als das neue Haus, und ich soll gar nicht mit?«
    »Wir wären immer noch beisammen, Lilly. Es sind keine drei Minuten. Wir könnten zusammen abendessen, spazieren gehen, im Garten sitzen …«
    Ich sprang auf. »Ihr habt nie die Absicht gehabt, mich mitzunehmen, stimmt’s? Ihr habt mich angelogen!«
    Lena schlug auf den Esstisch. »Das ist nicht wahr! Jetzt hör mir doch erst mal zu!«
    »Was gibt’s denn da noch zu hören? Soll ich dir mal was sagen? Ich kann ja wieder nach Hamburg gehen!«, schrie ich sie an, stürmte hinaus und knallte die Tür.
    In meinem Zimmer lag ich für den Rest des Nachmittags auf dem Bett, grübelte und heulte. Lena kam mir nicht hinterher, sodass ich sie auch nicht hinauswerfen konnte. Stattdessen klopfte es irgendwann an die Tür und auf mein lautes: »Nein! Bleib draußen!« trat Meggi ins Zimmer.
    »Tu mir einen Gefallen und behalt’s für dich«, begrüßte ich sie unfreundlich. Eine Lebensberatung von Meggi war das Letzte, worauf ich jetzt Lust hatte. »Du warst die ganze Zeit eingeweiht, habe ich Recht?«
    »Wäre ich eingeweiht gewesen, hätte ich die Sache etwas geschickter eingefädelt«, meinte meine Freundin. »Dann hätte ich dich nämlich selbst gefragt und die arme Lena aus dem Spiel gehalten.«
    »Als Katrin und Till gegangen sind, hat sie geweint und gehadert«, sagte ich mit zitternder Stimme. »Von wegen die neuen Zeiten, die schon wieder Familien auseinander reißen. Mich schickt sie weg, obwohl es noch gar nicht sein müsste!«
    Meggi setzte sich aufs Bett. »Katrin und Till sind ja auch leichter von zu Hause weggegangen als du. Sie sind viel fester verankert«, erklärte sie geduldig. »Sie erwarten mit viel größerer Selbstverständlichkeit, dass es ein Elternhaus gibt, in das sie bei Sturm und Wetter zurückkehren können. Aber Lena weiß, dass es bei dir anders ist.
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