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Lilly unter den Linden

Lilly unter den Linden

Titel: Lilly unter den Linden
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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vorne, vorbei an all den anderen Reihen, ganz nach vorne zu mir und blieben dort stehen. Ich konnte nicht anders, ich wandte den Blick zur Seite. Und im gleichen Moment kehrte die Sonne zurück.
    Es war ein Engel. Ein Engel, dessen Gesicht Liebe und Traurigkeit widerspiegelte und dessen lichtdurchwirkte Gestalt eine Kraft ausstrahlte, die mich wie ein Stromstoß ergriff. Ich schloss instinktiv die Augen. Ich hatte keine Ahnung, wie lange man einen Engel anschauen durfte, aber eins war klar: Seine Wirkung war bereits nach zwei Sekunden größer, als ich ertragen konnte.
    Aber als ich nach kurzer Pause die Augen wieder öffnete, war der Engel noch da. Er stand still neben meiner Bank und sah mich an, als ob er mir nicht nur ein Zeichen geben wollte, sondern auch eines von mir erwartete! Und plötzlich wusste ich, wer es war.
    Sie war endlich gekommen. Nach all der Zeit, nach all dem Warten – vergebens, zu spät. Mami war tot. Und es war, als ob die Wucht dieser Worte mir erst in dem Augenblick entgegenschlug, als Lena dort im Seitenschiff der Kirche stand und mich ansah. Mami war tot, tot. Nicht einmal das Erscheinen ihrer verlorenen Schwester würde sie wieder zum Leben erwecken. Es war wie ein Hohn, eine grausame Ironie des Schicksals, dass Lena ausgerechnet jetzt aus der Vergangenheit auftauchte, wo Mami sie nicht mehr brauchte.
    Etwas wie Bitterkeit wallte in mir auf. Es fehlte nicht viel und ich wäre aufgesprungen und aus der Kirche gelaufen. Warum war sie hier, was wollte sie – jetzt? Es gab doch überhaupt keinen Grund mehr, herzukommen!
    Es sei denn … es ist zwar unwahrscheinlich, aber nur mal angenommen … kann es wohl sein, dass sie meinetwegen gekommen ist …?
    Ich muss unwillkürlich ein klein wenig beiseite gerückt sein, denn Lena fühlt sich eingeladen, zu mir in die Bank zu kommen. Sie balanciert über die Kniebank und setzt sich neben mich, und ich kann meine Augen gar nicht mehr abwenden. Während Lena erst jetzt den Sarg vor sich sieht –, und die Augen schließt wie in einem jäh aufschießenden Schmerz – kann ich mich nicht satt sehen an meiner einzigen lebenden Blutsverwandten. Denn die lebendige Lena sieht so ganz anders aus als die nichts sagenden Fotos, die ich kenne. Sie sieht aus wie ein Porträt aus den zwanziger Jahren, wie Charleston, Zigarettenspitzen und Partys beim Großen Gatsby. Das halblange glatte Haar, die aristokratische Nase, der breite humorvolle Mund … Sie merkt, dass ich sie ansehe, und wendet ganz leicht den Kopf, um dem Blick zu begegnen. Da ist es um mich schon fast geschehen. Es ist zwar kein Engel, der da zu mir gekommen ist, aber bei weitem die wärmste, lebendigste, unvergesslichste Person, der ich je begegnet bin.
    Wie zum Beweis legt Lena behutsam ihre geöffnete Hand auf die Bank zwischen uns, und schließt sie, als ich die meine ebenso vorsichtig hineingelegt habe. Und ich merke, wie alles wiederkommt: das Gefühl in meinen Fingern, in meinen Händen und Füßen, auf meiner Haut und auch ganz tief drinnen, wo sich zwischen Dunkelheit und Kälte ein kleiner Lichtstrahl seinen Platz sucht.
    Lena hat noch kein einziges Wort zu mir gesagt, aber ich lebe wieder.

4
    In jenem letzten Sommer, bevor alles anders wurde, hatte ich entdeckt, dass meine Mutter Traktor fahren konnte: Meine schöne, elegante Mutter, die unbezahlbare Mode vorführte, deren makelloses Gesicht von Frauenzeitschriften lächelte und die beim Autofahren Handschuhe anzog, weil sie den Ledergeruch an ihrer Haut nicht ertrug, konnte Traktor fahren! Auch der Bauer, der uns die Ferienwohnung in der Lüneburger Heide vermietet hatte, traute seinen Augen nicht, aber sie ließ ihn mit seiner Überraschung allein und erzählte ihm nicht, wo und aus welchem Anlass sie es gelernt hatte. Meine Mutter sprach vor anderen Leuten nicht gern darüber, dass sie aus der DDR stammte, und auch ich durfte es nur erwähnen, wenn wir allein waren.
    »Wieso schämst du dich eigentlich dafür?«, wollte ich wissen, als wir zwischen den Pferdekoppeln zu unserem Bungalow zurückschlenderten. Meine Mutter sah mich betroffen an und antwortete nicht, noch nicht. Erst viel später an diesem Abend, als wir gegessen, abgewaschen und Rummikub gespielt hatten und es eigentlich längst Zeit für mich war, zu Bett zu gehen, erzählte sie uns eine lange Geschichte.
    Auf der Terrasse stand zwischen anderen Gartenmöbeln eine schon etwas abgewetzte Hollywoodschaukel, die leise quietschte, als Mami sich und mich sacht mit
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