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Lilly unter den Linden

Lilly unter den Linden

Titel: Lilly unter den Linden
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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selbst ausgesucht«, sagte ich ihr. »Es stehen auch noch ein paar andere Sachen drauf, für die Beerdigung. Musik und so …«
    Frau Gubler nahm das Blatt mit unsicherer Hand. »Das hat doch Zeit bis morgen«, sagte sie.
    »Je eher, desto besser«, antwortete ich.
    Später saßen wir einander am Esstisch der ungeheizten Wohnung gegenüber und schrieben Adressen auf gefütterte Briefumschläge. Ich brauchte sehr lange für jede Adresse; ich wusste nicht, wie ich mit meinen tauben Händen den Kugelschreiber halten sollte. Unsere Augen begegneten sich, ich sah rasch wieder weg. »Hast du dir die Hand verletzt?«, fragte Frau Gubler.
    »Nein«, murmelte ich, obwohl ich es ihr gern erzählt hätte.
    Frau Gubler wandte sich der nächsten Adresse zu. »Kann man hier eigentlich die Heizung andrehen?«, fragte sie.
    »Nein«, sagte ich, ohne aufzusehen.
    »Bist du sicher?«
    »Schon lange abgestellt.«
    Frau Gubler war anzumerken, dass sie spürte, dass ich log. Aber sie sagte nichts. Dass ich damit einen kleinen Sieg über sie errungen hatte, freute mich trotz allem.
    »Ich weiß, dass mein Erlöser lebt …« Das war die Musik, die Mami schon vor langer Zeit für den Fall ihrer Beerdigung ausgesucht hatte, und da wir ja nie darüber gesprochen hatten, konnte ich nur hoffen, dass sie dieses »Ich weiß« bis zuletzt durchgehalten hatte. Ich selbst war mir keineswegs sicher, ob ich in puncto Erlöser irgendetwas wusste, glaubte oder hoffte. Aber allein die vage Vorstellung, es könne ein Leben nach dem Tod geben und Mami könne mir in diesem Augenblick aus einer anderen Welt zusehen, reichte aus, um mich irgendwie aufrecht zu halten.
    »Aufrecht«, das bedeutete, dass ich funktionierte, dass Leute mich ansprechen konnten (was wenige taten), dass ich aß und einigermaßen schlief, zur Schule ging und miterlebte, was um mich herum geschah. Es bedeutete nicht, dass irgendetwas war wie vorher. Was mir bisher unerträglich, unlösbar oder nur ärgerlich und Besorgnis erregend erschienen war, hatte keine Bedeutung mehr, nachdem ich erlebt hatte, dass das alltägliche Potpourri aus Freuden und Sorgen bedeutungslos, nur eine Momentaufnahme war, nicht einmal eine Schneeflocke im Universum und innerhalb eines Augenblicks zu Ende. Was man gemeinhin als Alltag bezeichnet, war mir seltsam gleichgültig geworden.
    Dafür nahm ich anderes wahr: die Farbe des Schnees, den Geruch der Kerzen, das Knistern der pergamentenen Seiten beim Blättern im Gesangbuch, den erstaunlichen Wechsel ineinander fließender Farben und Lichter in den Altarfenstern, wenn die Sonne für einen kurzen Moment damit spielte. Und auch mich selbst konnte ich beobachten – mit Abstand und aus einem anderen Blickwinkel, so als ob ich eine andere Person wäre, die in einem Film über das Leben der Lilly Engelhart mitspielte. So aus der Distanz betrachtet, fiel mir auf, dass mein blauer Wintermantel viel zu kindlich geworden war, besonders mit der Strickmütze dazu, und ich fragte mich, warum diese Lilly nicht endlich ihren Wollschal abnahm. Dick eingemummelt saß sie allein in ihrer Bank und trug einen geistesabwesenden Gesichtsausdruck zur Schau.
    Am leisen Schlurfen oder dezenten Klappern verschiedener Schuhabsätze hörte ich, dass sich die hinteren Reihen der Kapelle füllten. Die Orgel setzte ein, die Sopranistin begann zu singen, die Flügeltüren der Friedhofskapelle wurden mit leisem Knarren geschlossen und klappten mit einem gedämpften Schlag zu. Ich versuchte mich auf den Sarg zu konzentrieren, der mit zwei Kränzen geschmückt vor dem Altar stand. Ich wartete darauf, dass die Sonne zurückkehrte und ihre Strahlen wieder durch die Kirchenfenster warf. Es herrschte unbeständiges Wetter an diesem Samstagnachmittag, aber ich war sicher, dass die Sonnenstrahlen wiederkommen würden. Denn dann stand der Sarg im Licht, und ein Abschied im Licht schien für Mami der einzig angemessene zu sein.
    Ich konzentrierte mich ganz auf diese Hoffnung und nahm nur am Rande wahr, dass sich die Flügeltüren ein weiteres Mal öffneten. Es ging ganz schnell und fast geräuschlos, als ob die zu spät gekommene Person nur flink hindurchschlüpfte und die Türen sich kaum bewegen mussten, um sie einzulassen. Schuhe mit flachen Absätzen bewegten sich so leise durch den Raum, wie es das unvermeidliche Quietschen von Gummisohlen zuließ. Und dieses Geräusch war es, was meine Aufmerksamkeit weckte. Denn die Schuhe blieben nicht hinten in der Kirche, oh nein, sie kamen nach
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