Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Lilly unter den Linden

Lilly unter den Linden

Titel: Lilly unter den Linden
Autoren: Anne C. Voorhoeve
Vom Netzwerk:
wohnte, was sie erlebten und was sie wohl sagen würden, wenn ich sie eines Tages besuchte.
    Plötzlich konnte ich das Bild gar nicht mehr ansehen. Plötzlich war mir klar, dass Mami und ich nie dorthin fliegen würden. Plötzlich musste ich nur noch daran denken, was Mami gesagt hatte, als ich das Bild ans Fenster malte. »Und jetzt mal noch die Mauer dazu«, sagte sie, als ich fertig war.
    »Da gibt es keine Mauer, Mami.«
    »Aber sie gehört dazu. Das sind deine Wurzeln. Vergiss das nie, hörst du? Du kannst zum Zuckerhut fliegen, aber zu deinen eigenen Leuten kannst du nicht. Fang bloß niemals an, das normal zu finden!«
    Meine Mauer um den Zuckerhut sah ein bisschen seltsam aus, weil mir mittendrin die braune Farbe ausgegangen war und ich grau weitermalen musste. Es war eine lange Mauer, von der linken unteren Fensterecke um den Zuckerhut herum bis nach rechts oben, wo fast schon der Rollladen begann. Lang genug, um alle Träume wieder einzusperren. Dass Mami schon keine mehr hatte, als ich mein Bild malte, begriff ich erst an diesem Nachmittag.
    Ich wünschte, wir hätten darüber reden können. Ich stelle mir vor, wie sich Mami nach jemandem gesehnt haben muss, dem sie sich anvertrauen konnte – mit ihrer Angst vor dem Sterben, ihrer Sorge, mich allein zurückzulassen und mit all den anderen Dingen, von denen ich damals nichts wusste. Die Einzige, die ihr hätte helfen können, war so weit entfernt, wie ein Mensch es nur sein konnte. Mauer, Grenzzäune und Stacheldraht lagen zwischen uns, Selbstschussanlagen und der so genannte Todesstreifen, wo Wachposten mit Hunden patrouillierten und Scheinwerfer das Gebiet nach den Schatten derer absuchten, die über den Zaun in den Westen flüchten wollten. Denn der Zaun behütete ein grimmig entschlossenes kleines Land, das vorgab, seine Bewohner vor der Welt dort draußen schützen zu wollen, und sie stattdessen wie Gefangene hielt.
    Es war beinahe wie im Märchen von Dornröschen, nur war leider weit und breit kein Prinz in Sicht.

2
    Einmal habe ich in der Zeitung von einem Mann gelesen, der nach einem Raubüberfall vorübergehend sein Gedächtnis verloren hatte. Als man ihm erzählte, was er erlebt hatte, konnte er es einfach nicht glauben. Er erinnerte sich weder an den Überfall selbst noch an die Zeit unmittelbar davor. »Und das ist auch das Beste«, erklärte er. »Sonst erlebt man es doch in der Erinnerung wieder und wieder.« Ich verstand genau, was er meinte. Ich erinnere mich an jedes kleine Detail der Stunde, in der mein bisheriges Leben aufhörte – der Stunde, in der ich die Nachricht von Mamis Tod bekam. Damals spielte ich sie in meinem Gedächtnis immer wieder durch und es dauerte lange, bis ich den Biologieraum meiner Schule endlich wieder betreten konnte, ohne dass mir schwindlig wurde.
    Dass die Wunder der Natur an der neuen Schule ausgerechnet von Inge Gründel unterrichtet wurden, hatte mir einen schweren Schlag versetzt. Bis vor kurzem hatte ich das Fach Biologie noch geliebt, doch nun begann jede Unterrichtsstunde mit dem gleichen qualvollen Ritual: Inge Gründel setzte sich auf die Versuchsbank, die den Bioraum von links nach rechts durchzog, nahm ihr Notizbuch zur Hand und durchforstete in langer Stille die Liste der Schülerinnen auf der Suche nach ihrem Tagesopfer. Die Klasse verharrte in einmütigem Schrecken, bis Frau Gründel die Spannung reichlich ausgekostet hatte und wie ein Pistolenschuss einen Namen hervorknallte. Während dreißig Seelen sich in einem dankbaren »Hhhh« Luft machten, kam die Aufgerufene beklommen nach vorne, musste sich mit dem Gesicht zur Klasse aufstellen und wurde über den Stoff der letzten Wochen abgefragt. Frau Gründels lauernder Gesichtsausdruck ließ dabei keinen Zweifel aufkommen, dass es ihr hauptsächlich um einen Stoff ging, der gar nicht auf dem Lehrplan stand: das Gesetz des Stärkeren …
    Ich wusste, dass es mich an diesem Tag treffen würde. Meine eiskalten Finger umklammerten den Kugelschreiber, während ich blind auf mein Arbeitsbuch starrte und mein eigener Herzschlag mir in den Ohren dröhnte. Meine Zunge war so trocken, dass ich befürchtete, beim Schlucken kleine Stücke davon abzubrechen. Ich versuchte mich zu erinnern, worum es in der letzten Biostunde gegangen war, aber mein Kopf war wie ausgehöhlt. Neben mir riss Meggi Pfeiffer kleine Papierstückchen aus ihrem Aufgabenheft und rollte sie in ihrer Qual zu kleinen Würstchen.
    »Jutta Polze«, schmetterte Frau Gründel.
    Jutta
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher