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Lilly unter den Linden

Lilly unter den Linden

Titel: Lilly unter den Linden
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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ihm ohnehin schon genug Pannen passierten und nicht einmal ich ihn so richtig ernst nahm! Pascal ist der Typ, der im Freibad mit Sicherheit in die einzige Scherbe weit und breit tritt, dem in der Mikrowelle die Kaffeetasse explodiert und den der zahnlose Dackel von nebenan so an der Wade erwischt, dass er mit vier Stichen genäht werden muss. Nur mit der Kamera ist er so richtig geschickt. Ich habe nie schönere Fotos gesehen als die, die Pascal von Mami in dem Sommer machte, bevor wir erkannten, dass sie sterben würde.
    Wir waren gerade umgezogen in eine große schöne Wohnung am Isekanal. Ich ging schon seit zwei Jahren in das Gymnasium, das gleich um die Ecke lag, und hatte Französisch zu lernen begonnen, was ich très chic fand. Pascal, der Franzose ist, machte sich einen Spaß daraus, mich damit zu ärgern, wie schlecht meine Aussprache war. Ständig sprach er Französisch mit mir und ich platzte fast vor Wut. Aber in die Schule ging ich gern; es gab Freundinnen, die ich mochte, und Jungs, die uns ärgerten. Wir standen im Pausenhof, Nase in die Luft, und legten sehr große Anstrengung hinein, sie zu ignorieren. Das fehlte mir fast am meisten, als ich, kaum hatte das neue Schuljahr begonnen, ins Internat nach Poppenbüttel musste.
    Denn hier gab es nur Mädchen. Hier gab es nur Lehrerinnen, und statt meines großen Zimmers mit Blick auf den Isekanal gab es für jede nur ein kleines Kabuff mit einem Bett, einem Schreibtisch und einem in die Wand eingelassenen Schrank. Internat nannte sich das, und interniert fühlte ich mich auch. Aber ich glaubte fest daran, dass Mami wieder gesund werden und mich hier herausholen würde. Sie würde es schaffen! Dass sie mit 34 Jahren sterben und mich allein zurücklassen würde … das schien mir völlig undenkbar.
    Ich weigerte mich zu sehen, dass sie schwächer wurde. Schließlich hatten wir das alles schon einmal erlebt und auch beim ersten Mal war es irgendwann wieder aufwärts gegangen. Wenn ich sie nachmittags besuchte, gab ich mich fröhlich, wir machten Pläne für die Zeit nach ihrer Krankheit, vom Internat erzählte ich ihr fast nichts. Klar, es ist alles in Ordnung. Und: Ja, natürlich habe ich schon eine Freundin, sie heißt Meggi Pfeiffer und sitzt in Bio neben mir …
    Meggi Pfeiffer saß wirklich in Bio neben mir und sie war tatsächlich diejenige, die als Freundin in Frage gekommen wäre, wenn ich Lust auf so etwas gehabt hätte. Aber wozu? Ich würde das Internat ja bald wieder verlassen, Mami würde gesund werden, ihr werdet schon sehen! Meine Klassenkameradinnen interessierten mich nicht.
    Und dann kam Frau Gubler. Im ersten Augenblick – dort im Besprechungsraum des Internats – dachte ich an nichts Böses und war ganz aufgeschlossen, denn Frau Gubler sah aus wie diese nette Schauspielerin, die gerade als Mutter in einer Vorabendserie berühmt geworden war. Wir tranken Saft und unterhielten uns ganz locker, und ich hatte keine Ahnung, dass sie vom Jugendamt war, bis sie nach einer halben Stunde endlich damit rausrückte, was sie eigentlich von mir wollte. Sie wollte mich kennen lernen, weil das Jugendamt mein gesetzlicher Vormund sein würde, wenn meine Mutter starb.
    Gewusst habe ich das schon immer. Daran gedacht hatte ich bis zu diesem Moment nie. Noch heute kann ich nicht über das Gefühl reden, das von mir Besitz ergriff und mich nicht mehr loslassen wollte. Ich glaube, es war Panik. Nackte Angst, die einen Menschen beschleicht, wenn etwas Furchtbares unaufhaltsam auf ihn zukommt und er nichts, aber auch gar nichts dagegen tun kann.
    Als ich an diesem Nachmittag ins Krankenhaus fuhr, sah ich Mami mit anderen Augen. Es war, als sähe ich zum ersten Mal, wie dünn und blass sie geworden war und dass sie nicht einmal mehr alleine essen konnte, als würde mir zum ersten Mal bewusst, dass die Ärzte die Behandlung eingestellt hatten und aus den Infusionsschläuchen nur noch Schmerzmittel und Flüssignahrung floss.
    Meine Mutter würde sterben.
    Wusste sie es auch?
    Am Fenster prangte noch das Bild vom Zuckerhut, das ich einige Wochen zuvor an die Scheibe gemalt hatte. Wir hatten immer davon gesprochen, zusammen dorthin zu fliegen, sobald Mami wieder gesund und kräftig genug war. Als ich klein war, hatte ich mir Geschichten über den Zuckerhut ausgedacht. Ich glaubte, es sei der Eingang zum Schlaraffenland und dahinter sei ein riesiger Garten mit Musik und glücklichen Menschen, die Schokoladenbäume anknabberten. Ich malte mir gern aus, wer dort
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