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Lilienrupfer

Lilienrupfer

Titel: Lilienrupfer
Autoren: Marie Velden
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Robbie,
     
    tut mir leid, dass ich so lange nichts von mir habe hören lassen, aber dafür gibt es Gründe. Du findest sie im Anhang. Gleich vorweg: Es ist ziemlich viel Text. Du wirst eine Weile brauchen, bis Du ihn gelesen hast. Deshalb melde ich mich erst in ein paar Tagen wieder.
     
    Bis dahin und
    einen lieben Gruß
    von
    Undine
    ***
    Datum: 7.   Juni 2008 20.01   Uhr
    Von: [email protected]
    An: [email protected]
    Betreff: Und noch einmal der Text
     
     
    Lieber Robbie,
     
    hier bin ich wieder und nehme an, Du hast meinen Text inzwischen gelesen. Eine schöne Geschichte, nicht wahr? Ich finde das auch, denn wie oft geraten die Dinge in Konstellationen, aus denen nur das Beste und Schönste resultieren kann? Nicht sehr häufig. Glücksmomente sind dünn an den Rändern, und meistens passt der eine nicht an den anderen.
    Deswegen sehen wir Filme, wo sich alles wundervoll fügt, lesen Bücher, in denen niemand leer ausgeht, das Schlechte bestraft wird und das Gute gewinnt.
    Indem wir träumen, halten wir die Hoffnung wach.
     
    Die zweite Hälfte meiner Geschichte ist nicht wahr. Oder jedenfalls nicht ganz.
    Rebecca Williams existiert nicht, sie hat mir nie geschrieben und ein Roman von mir wird vorerst nicht erscheinen. Schon mal gar nicht gemeinsam mit _____.
    Wahr ist allerdings, dass ich ihn getroffen habe. Denn Anette Schmitt, die Lektorin in meiner Erzählung, ist in Wirklichkeit eine Freundin von mir und Buchhändlerin. Sie arbeitet in einem renommierten Laden, und als ____ Anfang des Jahres zu einer Lesung dorthin kam, war ich eingeladen und so lernte ich ihn kennen. Er ist ungeheuer nett, einfühlsam und witzig, wir mailen uns hin und wieder und halten Kontakt.
    Franz und Julia sind noch immer zusammen. Auch das stimmt. Ebenso wie die Trennung der Mägeleins und der Erfolg unserer letzten Premiere. Der Applaus vor zwei Wochen war berauschend und echt. Franz schwamm im Glück. Und Julia mit ihm. Friedmann selbstverständlich auch.
    Wenn ich es mir recht überlege, ist auch das zweite Stück meiner Geschichte wirklich geschehen. Nur ein Teil darin eben nicht. Der mit Christian. Ich habe Christian nicht mehr wiedergesehen und werde es auch nicht.
    Christian ist tot.
    Anders als in meiner Geschichte wurde er in Wahrheit nicht gerettet, sondern starb an dieser Krankheit namens Guillain-Barré-Syndrom. Ich erfuhr nur durch Zufall davon, besser gesagt war es Julia, die davon hörte. Sie ist mit einem der Ärzte befreundet, der bei Christian im Rettungswagen saß und ihr später davon erzählte.
    Er starb, weil er nicht mehr atmen konnte. Die Lähmung hatte schließlich die Lungen erfasst. Es hätte nicht so kommen müssen. Sein Tod wäre zu verhindern gewesen, hätte man ihn früher entdeckt und nicht erst am späten Abend, als er mit einem Kollegen zum Essen verabredet gewesen war. Wenn allerdings nicht der Schnapper am Schloss seiner Wohnungstür so eingestellt gewesen wäre, um sie ohne Schlüssel und mit schwachem Druck zu öffnen, hätte ihn auch sein Kollege nicht gefunden. Er wäre gar nicht in die Wohnung gekommen, in der Christian bereits bewusstlos auf dem Boden lag. Das Telefon drei Meter von ihm entfernt auf dem Schreibtisch.
     
    Als ich davon erfuhr, empfand ich nichts als den Sog eines Vakuums. Ich hörte Julias Worte und war wie eingefroren.Sie drangen nicht zu mir hindurch. Lange Zeit nicht. Ein paar Wochen lebte ich wie im Nebel. Tat mechanisch alles, was ich immer tat – arbeiten, essen, schlafen, telefonieren, Haare waschen, putzen, ganz egal   –, aber ich nahm nichts wahr und fühlte nichts. Nur manchmal, nachts in meinem Bett, sah ich Christian vor mir, mit den verstrubbelten Haaren, seinem braun gebrannten Gesicht über dem grünen T-Shirt und wie er mir in diesem Restaurant am See zugelächelt hatte. Dann zerriss es mir das Herz. Später fragte ich mich, ob es nicht auch meine Schuld war. Hätte ich damals am Telefon nicht geschwiegen, hätte ich meiner Angst getrotzt und den Mund aufgemacht – vielleicht hätten wir das Ruder herumgerissen und ich wäre an dem Tag, als diese Krankheit sich ihn schnappte, bei ihm gewesen.
    Ich wäre bis ans Telefon gekommen.
     
    Ich muss zugeben, es ist seltsam, dass ich Anfang dieses Jahres ausgerechnet ____ ______ traf. Ich besuche Lesungen nur selten, aber für ihn machte ich eine Ausnahme, denn ich habe nie die Übersetzung seines letzten Buches auf Christians Schreibtisch vergessen – seit damals verknüpfe ich den einen mit dem
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