Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Lilienrupfer

Lilienrupfer

Titel: Lilienrupfer
Autoren: Marie Velden
Vom Netzwerk:
Enttäuschung begann ich zu weinen. Aber ich hatte Glück. Ein Mädchen, das neben mir ging, gab mir von ihren Blumen, die ich daraufhin besonnener verstreute.
    Das Impulsive ist mir über die Jahre geblieben. Später verteilte ich mit derselben Bedenkenlosigkeit meine Zuneigung. Christians Geständnis machte mir Angst. Wie gerne würde ich daran glauben und mich darauf einlassen. Aber genau wie damals als Blumenmädchen brauchte ichjemanden, der mir half, mit dem zu haushalten, was ich hatte. Was, wenn Christian sich jetzt nur einer Illusion hingab? Mir sank der Mut.
     
    Als er am nächsten Abend anrief, ging ich nicht ans Telefon, sondern ließ den Anrufbeantworter laufen. Am nächsten und übernächsten Tag dasselbe. Irgendwann merkte ich, dass keine Berechnung in meiner Abwehr lag.
    Ich brauchte Zeit.
     
    Ein paar Tage später, es war inzwischen Ende Mai und nicht mehr weit bis zur Premiere, besuchte mich Julia mit ihrem Neffen. Louis war acht und liebte Tiere. Caroline und Mr Briggs wohnten noch immer bei mir und ließen ihn in Begeisterungsstürme ausbrechen. Er bestand darauf, die beiden fliegen zu lassen, und gehorsam öffnete ich den Käfig. Es dauerte sonst ewig, bis sie sich heraustrauten, aber diesmal ging es schnell. Caroline flog als Erste los und Mr Briggs folgte ihr gleich darauf. Louis sah den beiden verzückt zu und lockte sie mit Kolbenhirse zu sich auf die Hand, streichelte ihre Bäuchlein und Schnäbel. Nach einer Stunde etwa flog Caroline zurück in den Käfig, während Mr Briggs orientierungslos auf dem Dach landete und das Eingangstürchen nicht fand.
    Sein Lärmen war herzzerreißend. Er schlug mit seinen Flügeln und rannte auf dem Käfig hin und her, während Caroline im Inneren an die Stelle kletterte, wo sich ihr Männchen befand. Sie tschilpte so aufgeregt, als wolle sie ihm zurufen, er solle endlich hereinkommen, die Tür sei leicht zu finden, sie habe es auch geschafft. Louis stand verzweifelt vor der Voliere und klammerte sich an Julia fest. »Helft ihm doch«, weinte er und zeigte auf Mr Briggs, dersich inzwischen vor Angst dünn gemacht hatte und sich duckte.
    »Warte«, sagte ich, scheuchte den Vogel vom Dach auf die Kommode, packte den Käfig und hielt ihn mit dem offenen Türchen vor ihn hin. Mr Briggs zwitscherte hell auf und hüpfte hinein, wo ihm Caroline nicht mehr von der Seite wich. Vielmehr schmiegte sie ihr Köpfchen dicht an seines. Ein paar Minuten später begann er, zart mit seinem Schnabel ihren Nacken zu kraulen, während sie mit einem Fiepen, das herzergreifend war, antwortete.
    Gebannt sah Louis ihnen zu, und dann sagte er mit dem ganzen Enthusiasmus seiner acht Jahre: »Julia, ich habe noch nie erlebt, dass eine Frau so sehr um ihren Mann kämpft.«
     
    Wie recht Louis hat, dachte ich, als ich später allein im Wohnzimmer saß und die beiden Vögel beobachtete, die noch immer wie siamesische Zwillinge auf dem Stängchen hockten. Es war etwas Bedingungsloses in ihrem Verhalten, eine instinktive und völlige Hingabe, die mich rührte und mir zu denken gab. Ich goss mir ein Glas Wein ein und schüttelte unwillig den Kopf. Wie kam ich bloß darauf, die Lösung meiner Probleme bei Flora und Fauna zu suchen?
    ***
    Am nächsten Abend kam ich erst sehr spät und erschöpft nach Hause. Ich war schlechter Laune, weil es bei den Proben Zoff gegeben und Franz seinen Groll an mir ausgelassen hatte. Als ich den Hausflur betrat und über einen achtlos auf den Boden geknallten Stapel Prospekte stolperte, schwoll mein Ärger weiter an. Ich kickte das Papier mitdem Absatz zur Seite und stieg brummelnd die Treppen zu meiner Wohnung nach oben. Im Briefschlitz meiner Wohnungstür steckte ein weiteres Prospekt. »Ja machen die denn vor gar nichts mehr halt«, schnappte ich, als ich es herauszog. Ich wollte es schon zusammenknüllen, als ich sah, dass jemand etwas mit einem schwarzen Filzstift daraufgeschrieben hatte. Ich ging in die Wohnung, machte Licht und sah es mir genauer an. Da stand:
     
    »Wir können niemals zweimal
    in denselben Fluß steigen.
    Aber der Fluß fließt weiter,
    und der andere Fluß,
    in den wir steigen,
    ist auch kühl und erfrischend
.
«
     
    Christian
     
    Mein Herz schlug wild, als ich das las, und meine Wangen brannten. Denn noch viel wichtiger als der Inhalt dieser Sätze war ihr eigentlicher Verfasser. Dass Christian ausgerechnet
ihn
zitiert hatte, war so etwas wie ein Mirakel. Dann fiel mir etwas ein und ich holte den ›Lily Picker‹ hervor. Ich
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher