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Lilienblut

Lilienblut

Titel: Lilienblut
Autoren: Elisabeth Herrmann
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spät werden.«
    »Besser spät als nie.«
    Er stand auf und versuchte, Amelie in den Arm zu nehmen, was diese halbherzig gestattete. Sabrina drehte sich weg. Sollten sie von ihr aus knutschen ohne Ende, ihr war kalt. Die Übelkeit war fast vorbei, aber sie lagen im Schatten des steilen Ufers, und ein kühler Wind strich über das Wasser. Weit oben, auf hässlichen Betonstelzen, führte die B9 nach Mayen und Köln. Sie konnte den Lärm der vorüberrasenden Autos bis hier unten hören. Dichtes Gestrüpp wucherte bis ans Wasser. Sie waren flussaufwärts, fast an der Spitze der Namedyer Halbinsel, gelandet. Mitten im Naturschutzgebiet.
    Sabrina hielt Ausschau, ob sie von jemandem entdeckt werden konnten, doch sie waren die einzigen Menschen weit und breit. Ein paar Meter weiter verschwand der stille Seitenarm des Rheins hinter den Bäumen. Wie nannten ihn die
Leute noch mal? Er hatte einen komischen Namen. Irgendetwas war dort passiert, etwas Schlimmes, das sich herumgesprochen hatte. Ein paar Jahre musste das her sein. Sabrina erinnerte sich an Blaulicht und langsam vorbeifahrende Polizeiwagen. Über Leutesdorf und Andernach hatte plötzlich etwas Böses seine Flügel ausgebreitet, das sich wie ein dunkler Schleier über die Fröhlichkeit dieses Sommers gelegt hatte. Kaum einer lachte. Auf dem Markt standen sie zusammen, schauten über ihre Schultern und flüsterten dann miteinander. Eltern holten ihre Kinder von der Schule ab. Die Spielplätze waren verwaist, die Straßen nachts verlassen. Ihr Vater hatte noch bei ihnen gelebt, und eines Abends, als sie nicht schlafen konnte, war sie hinuntergeschlichen bis zur Küchentür.
    Es war einer von hier, hatte ihr Vater gesagt. Hoffentlich finden sie das Schwein.
    Sabrina konnte sich nicht erinnern, um was es gegangen war. Ein Schwein war offenbar gestohlen worden, das hatte sie sich in ihrer kindlichen Fantasie zusammengereimt. Sie hatte ihre Mutter danach gefragt, und die hatte den Diebstahl bestätigt – erleichtert, wie es Sabrina schien, dass sie ihrer Tochter eine Erklärung geben konnte. Später war Sabrina zwar schon klar gewesen, dass es bei all dem nicht nur um ein Schwein gegangen sein konnte. Aber irgendwann hatten die Leute aufgehört zu flüstern. Sie durfte wieder alleine zur Schule gehen und auf den Spielplätzen lachten und schrien die Kinder. Es war, als ob die Sonne nach einem langen Regen die Wolken vertrieben hätte. Fragte noch jemand, woher die Wolken gekommen waren? Wohin sie zogen? Die Erinnerung verblasste, und alles, was blieb, war ein Name.
    Der tote Fluss.
    Plötzlich war ihr, als ob eine kalte Hand über ihren Nacken streifte. Sie fröstelte und schaute wieder nach den beiden anderen, die immer noch miteinander herumkasperten.
    »Lass das!«
    Amelie klang ziemlich genervt. Lukas hing an ihrem Hals und wollte sie küssen.

    »Ich hab gesagt, du sollst das lassen!«
    Aber er hörte nicht auf.
    Sabrina fand, dass Amelie ihm klar und deutlich gesagt hatte, was sie wollte und was nicht. Sie räusperte sich, dann streckte sie den Arm zum Ufer aus. »Schaut mal! Das ist ja komisch.«
    Lukas Aufmerksamkeit war abgelenkt, Amelie schlüpfte aus seiner Umklammerung und stellte sich neben Sabrina.
    »Da vorne. Sieht aus, als ob einer mit einem Mähdrescher übers Wasser gefahren wäre.«
    Die Büsche links und rechts der Einmündung des Seitenarms waren ziemlich zerrupft. Sogar ein Teil der Böschung war in Mitleidenschaft gezogen. Etwas sehr Breites musste sich durch diesen engen Zugang übers Wasser geschoben haben.
    »Oh-oh.« Amelie runzelte die Stirn. »Ist ja krass. Das wird unserem Ranger gar nicht gefallen.«
    Der Ranger war der Chef des Naturschutzgebietes und er nahm seine Arbeit ziemlich ernst. Sabrina kannte ihn vom Sehen, wenn er den Touristen auf streng abgegrenzten Pfaden den Weg zum Geysir zeigte, der nicht weit von hier fast hundertsechzig Meter hoch aus der Erde schoss. Es war die älteste und zugleich die neueste Attraktion von Andernach, denn nachdem man den Sprudel aus der Eiszeit vor über dreißig Jahren zubetoniert hatte, war man im letzten Jahr darauf gekommen, ihn doch wieder aus seinem vulkanischen Gefängnis zu befreien. Seitdem erfreuten sich unzählige Schulklassen und Tagestouristen an der schwefeligen Brühe.
    Amelie drehte sich zu Lukas um. »Du bist auch ziemlich nah am Ufer. Pass auf, dass du nicht noch einen Strafzettel bekommst.«
    »Was kann denn das gewesen sein?«, fragte Sabrina.
    »Die Bestie von Andernach«,
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