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Lilienblut

Lilienblut

Titel: Lilienblut
Autoren: Elisabeth Herrmann
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Amelie, und sie mochte sie nicht wegen ihrer Eltern, sondern weil sie so etwas wie eine große Schwester war. Sie musste ja nicht alles nachmachen, was ihre Freundin vormachte. Oft reichte es schon, Amelies Katerstimmung mit auszubaden. Sabrina hatte daraus zum Beispiel gelernt, dass man seinen Chef nur einmal »du blöder Arsch« nennen durfte; dass man auf Rockkonzerten keine Plätzchen von Unbekannten annehmen sollte, weil man den Rest des Abends zu zugedröhnt war, um überhaupt noch etwas mitzubekommen – Sabrina hatte Amelie hinter Wandas Rücken ins Haus geschmuggelt; und dass es selten die große Liebe wurde, wenn man betrunken mit einem Jungen herumknutschte und am nächsten Morgen nicht mal mehr seinen Namen wusste.
    Viel Kummer. Viele Tränen. Aber auch so viel Lachen und Hunger auf das, was Amelie »das Leben« nannte: dieser gewaltige Ozean voller Abenteuer, in dem man entweder ertrank oder lernte zu schwimmen.
    Sabrina fühlte sich, als hätte sie noch nicht einmal das Seepferdchen, während Amelie schon den Rettungsschwimmer hatte. Die Dobersteins waren Spätzünder, hatte ihre Mutter einmal gesagt. Es war eines der letzten Gespräche zwischen ihnen gewesen, in denen es um wirkliche, echte Gefühle ging. Sabrina hatte sich in ihren Tanzschulpartner verliebt, er aber nicht in sie. Wie lange war das her? Zwei Jahre schon? Irgendwann hatte sie aufgehört, mit ihrer Mutter über diese Dinge zu reden. Dafür war Amelie in ihr Leben getreten, und mit ihr war alles aufregend, spannend, manchmal auch schrecklich, furchtbar und – siehe heute – beinahe lebensgefährlich geworden. Aber eines nie: langweilig.
    »Meine Eltern sind geschieden, wir sind fast bankrott, und
meine Mutter hat vor, mich lebendig unter einem Weinberg zu begraben«, antwortete sie. »Was ist daran denn so toll?«
    »Euer Name.« Amelie breitete die Arme aus, als würde sie ein Wappenschild über ihren Kopf halten. »Doberstein. Eure Geschichte. Vierhundertfünfzig Jahre. Das ist ja wie ein Adelsgeschlecht. Martin Kreutzfelder würde vor Freude Eiswein aus dem Marktbrunnen fließen lassen, wenn aus seinem Sohn und dir was werden würde.«
    »Wird es aber nicht. Lukas will dich. Nur dich allein.«
    Amelie ließ sich auf ein zerknautsches Kopfkissen sinken und starrte an die Decke. »Ich weiß nicht. Ich glaube, er will auch nur mit mir ins Bett.«
    »Er ist vor allen Leuten auf die Knie gegangen wegen dir. Schon vergessen?«
    Amelie prustete. Die Szene war auch zu komisch gewesen. Dann wurde sie wieder ernst. »Weißt du, was mich stört? Dass keiner danach fragt, was ich will. Du übrigens auch nicht. Alle tun so, als ob Lukas ein Sechser im Lotto wäre und ich Freudentänze aufführen sollte. Aber keinen interessiert es, ob er für mich auch ein Hauptgewinn wäre.«
    »Hm.« Sabrina dachte nach. »Ist er das nicht? Ich dachte …«
    »Ich weiß es nicht. Vielleicht bin ich ja deshalb so misstrauisch. Ich hab noch nie einen Sechser gehabt.«
    »Dann wird es doch mal Zeit, oder?«
    Das war das Stichwort. Mit einem erschrockenen Ausruf schaute Amelie auf ihren Wecker. Kurz vor vier. Ihre Schicht begann. Sie streifte sich wahllos das Kleid über, das am nächsten lag, schnappte ihre Schlüssel und riss die Tür auf. Sie musste nichts machen und sah trotzdem aus wie eine Glamour-Queen.
    »Such dir was aus. Wir sehen uns nachher.«
    Schon war sie weg.
    Das war zum Beispiel etwas, was die wenigsten von Amelie dachten: dass sie, wenn es darauf ankam, ziemlich pflichtbewusst war. Fast schon preußisch. Ganz im Gegensatz dazu
stand ihr Umgang mit Dingen, auf die es ihrer Meinung nach nicht ankam. Ordnung zum Beispiel. Sabrina starrte auf den vollgestopften Kleiderschrank und entschied, die weite Jeans anzubehalten und das hibiscusrote Oberteil anzuziehen. Sie hatte Angst, der Inhalt des Schrankes würde sie unter sich begraben, wenn sie auch nur eine Socke herausziehen würde.
    Als sie fertig war, nahm sie ihre nassen Sachen vom Stuhl. Ihr Blick fiel auf den Schreibtisch. Ein rosafarbenes Buch mit einem glitzernden Einhorn auf dem Einband fiel ihr auf. Es war so kitschig, dass es gar nicht zu Amelie passte. »Tagebuch« stand darauf. Darunter, in krakeliger Kinderschrift: »Amelie Bogner«. So was bekamen Achtjährige zum Geburtstag geschenkt, und wenn sie endlich alt genug waren, um etwas zu erleben, das es wert war, hineingeschrieben zu werden, war die Zeit der glitzernden Einhörner schon längst vorüber.
    Sabrina lächelte. In welcher Kiste
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