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Lilienblut

Lilienblut

Titel: Lilienblut
Autoren: Elisabeth Herrmann
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Albtraum aufzuwachen und zu merken, dass dies kein Albtraum war; die Sekunde vor dem Schrecklichen, der Moment vor der Tat, der letzte Gedanke im Angesicht des ewigen Nichts, die größte Furcht.
    Und die Tür ging auf, und das gleißend helle Licht blendete ihn so sehr, dass er nichts erkennen konnte. Er hörte seinen eigenen keuchenden Atem. Er sah sich den Gang hinuntergehen bis zu jener Tür, die er nicht öffnen durfte, weil sonst das Schlimme geschehen würde. Doch er hielt sich nicht daran. Er sah seine Hand, bleich im Mondlicht, und seine Finger zitterten so stark, als stünde er unter Strom. Der Duft war so intensiv, dass ihm beinahe übel wurde. Schweiß rann über sein Gesicht. Oder waren es Tränen? Er stieß die Tür auf, und dann hörte er die Schreie, sah wirbelnde Schatten und eine Hand, die sich hob und niederfuhr. Wieder und immer wieder, bis etwas Metallisches aufblitzte und die Hilferufe in einem nassen Röcheln erstarben. Das Blut kroch über den Teppich, es fühlte sich warm an, und als er hinuntersah, erkannte er seine bloßen Füße inmitten eines rubinroten Sees und die abgebrochene Blüte einer Lilie, so weiß und unschuldig und tot wie alles in diesem Raum.
    Er fuhr hoch. Der heisere Ruf einer Krähe musste ihn geweckt haben. Durch die Vorhänge kroch das fahle Licht des Morgengrauens. Mit einem Stöhnen griff er sich an den Kopf. Er hatte wahnsinnige Schmerzen. Wie immer, wenn er diesen Traum gehabt hatte und die Erinnerung wiederkam.
    Der Name. Er hatte ihn nicht vergessen. Der Ort war verflucht. Sie nannten ihn: den toten Fluss.

EINS
    Sabrina räkelte sich unter dem Bettlaken und fühlte, wie die Glückseligkeit in ihr wuchs wie ein Heliumballon. Es war der erste Tag der Sommerferien und es war ihr Geburtstag. Mehr konnte es eigentlich gar nicht geben. Sie blinzelte in Richtung Wecker und erkannte, dass sie zur selben Zeit wach geworden war wie immer. Halb sieben. Die Macht der Gewohnheit, die jetzt für sechs endlos lange Wochen unterbrochen war.
    Sie schnupperte, aber noch lag kein Hauch von heißer Schokolade in der Luft. Normalerweise hörte sie um diese Uhrzeit ihre Mutter schon unten im Bad rumoren. Irgendwann klapperten die Teller in der Küche, Kaffeeduft zog durchs Haus, und spätestens dann wusste Sabrina, dass die Gnadenfrist abgelaufen war und sie aufstehen musste.
    An ihren Geburtstagen aber war alles anders. Es gab Frühstück im Bett, und in jedem Jahr, an das sie sich erinnern konnte, hatte ihre Mutter eine Schale Kakao gekocht. So dick, dass der Löffel beim Umrühren beinahe stehen blieb.
    Sabrina wälzte sich auf die andere Seite, aber der Schlaf kam nicht wieder. Sie war hellwach. Gestern Abend hatte Franziska Doberstein ihrer Tochter noch geheimnisvoll zugezwinkert und etwas von einer riesigen Überraschung gemurmelt. So groß, dass sie noch nicht einmal durch die Tür des kleinen Fachwerkhauses passen würde. Vergessen hatte sie den Geburtstag also nicht. Vielleicht verschlafen?
    Unsinn. Franziska Doberstein verschlief nie. Sie war die perfekte alleinerziehende Mutter. Gestresst bis zum Umfallen, aber eine Familienlöwin, der Weihnachten, Ostern und Geburtstage heilig waren. Plötzlich strahlte Sabrina, sprang aus dem Bett und lief ans Fenster. Ihr Geschenk würde im Hof stehen, zwischen den alten Weinfässern, der kleinen Sitzgruppe
und dem altersschwachen Opel, der alle zwei Jahre mit Gebeten und Schmiergeld doch noch irgendwie über den TÜV gebracht wurde. Vielleicht ein Mofa? Nein. Kein Geld, und den Führerschein könnte sie erst im nächsten Jahr machen. Ein Boot? Zu teuer. Vielleicht …
    Sie riss die Vorhänge zur Seite und erstarrte. Die Überraschung war perfekt, aber anders, als Sabrina sie sich vorgestellt hatte. Unten stand ihre Mutter, küsste einen fremden Mann und schien alles um sich herum vergessen zu haben. Sogar, dass sie ein Nachthemd trug. Dazu noch eines von der Sorte, das Sabrina allenfalls an ihrer Großmutter geduldet hätte. Den Mann hatte Sabrina noch nie gesehen. Er war groß und kräftig, hatte strubbelige Haare, die ihm in alle Richtungen abstanden, und sein Hemd hing lose über einer ausgebeulten Jeans. Er schien sich an dem Nachthemd nicht zu stören, im Gegenteil. Wenn Sabrinas verschlafene Augen sie nicht täuschten, streichelte er gerade sehr genießerisch den Po ihrer Mutter. Die schmiegte sich in seine Arme und schien alles um sich herum zu vergessen.
    Auch Sabrinas Geburtstag.
    Sie warf das offene Fenster zu. Es war ihr egal,
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