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Liegen lernen

Liegen lernen

Titel: Liegen lernen
Autoren: Frank Goosen
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blonde Haare und einen schmutziggelben Bart, er trug eine braune Cordhose und ein kariertes Hemd. Ich sagte »Hallo!«, und der Typ stand auf und gab mir die Hand. Seine Augen waren ganz klein und ganz rot. Das war mein Gitarrenlehrer. Er schien sich vor allem von seinen Fingernägeln zu ernähren, denn die waren heruntergefressen bis zum Nagelbett.
    Mein Gitarrenlehrer hieß »Stoney«, und damals war ich zu blöd, seinen Spitznamen mit seiner äußeren Erscheinung und seinem geistigen Zustand zusammenzubringen. Stoney fragte mich, was ich lernen wolle. Ich sagte, ich wolle Liedermacher werden und Lieder gegen das Böse in der Welt machen, also gegen Nazis und Amerikaner und sauren Regen und Waldsterben. Stoney meinte, ich sei auf dem richtigen Weg. Dann fing der Unterricht an.
    Ich holte meine Gitarre aus dem Kunststoffutteral, das meine Eltern mir zum Geburtstag geschenkt hatten, und Stoney ging zu einem in der Ecke auf dem Boden stehenden Plattenspieler und legte eine LP auf. Stoney rückte zwei Stühle zurecht, und wir setzten uns drauf.
    »Peter Burschs Gitarrenkurs« las ich auf der Hülle. Peter auf der Platte sagte, als erstes würden wir mal die Saiten unserer Klampfe kennenlernen. Naja, dachte ich, Vorder- und Rückseite sind da, das kann ja nicht so lange dauern, aber Peter meinte natürlich die Strippen, die vorne über das Loch gezogen worden waren und aus denen die eigentliche Musik kommen sollte. Peter erklärte jede Saite einzeln. Er sagte: »Die dicke E-Saite!« und schlug eben die auch an. Dann sagte er: »Die A-Saite!«, und kurz darauf gab auch diese einen Ton von sich! Ein Wunder! Der Urgroßvater meines Urgroßvaters hätte geglaubt, der Himmel sei ihm auf den Kopf gefallen. Da waren Töne, aber der, der sie machte, war gar nicht da!
    Stoney drehte sich auf seinem Oberschenkel eine Zigarette.
    Peter machte alle sechs Saiten durch, bis zur »dünnen E-Saite«. Jetzt kannten wir alle sechs Saiten der Gitarre. Wir hatten sechs neue Freunde hinzugewonnen.
    Dann sagte Peter, wir wollten nun gemeinsam unsere Klampfe auch stimmen. Wieder spielte er jede Saite einzeln an. Die entsprechende Saite an meiner Gitarre mußte sich dann genauso anhören. Jede Saite spielte Peter ungefähr achthundertmal an. Wahrscheinlich wurden mit dieser Platte in der DDR Regimekritiker gefoltert. Ich schraubte an den Knöpfen am Kopf des Geräts herum, und für meine Ohren hörte sich das alles bald sehr gut an. Stoney aber war ein strenger Lehrmeister, ein Yoda der Wandergitarre. Er schüttelte den Kopf und setzte die Nadel wieder zurück. Wieder durfte ich mir jede Saite achthundertmal anhören. Dann nahm Stoney die Gitarre selbst in die Hand und stimmte sie, wobei er genervt die Augen verdrehte. Ich würde wohl beim Kampf gegen Nazis und Amerikaner und sauren Regen und Waldsterben nicht unbedingt im Musikcorps eingesetzt werden. Als Stoney fertig war, hörte sich meine Gitarre genauso an wie vorher. Stoney nahm die Nadel von der Platte und sagte, in der nächsten Woche würden wir wiederholen, was wir heute gelernt hätten, und dann wolle er mir einen Akkord beibringen. Vielleicht f-Moll. Oder a-Moll. Und nach ein paar Wochen könnten wir uns dann vielleicht mal an einen G7 wagen. Dann gab ich ihm die zwanzig Mark, die meine Mutter mir mit auf den Weg gegeben hatte, und war entlassen.
    Als ich nach Hause kam, eröffnete ich meinen Eltern, daß ich das Gitarrespielen wohl aufgeben würde. Mein Vater sah aus, als hätte ihm jemand zwanzigtausend Mark geschenkt. Auf so einen schnellen Erfolg hatte er nicht gehofft. Ich sagte, ich wolle es mal mit Schlagzeug versuchen. Die Gesichtsfarbe meines Vaters wechselte in Richtung Leberschaden. Ich ging in mein Zimmer, während meine Eltern in der Küche zu einer Krisensitzung zusammenkamen. Sie erwogen offenbar, mir eine eigene Wohnung zu finanzieren. In einer anderen Stadt. Dabei hatte ich nur Spaß gemacht.
    Eine Woche lang rührte ich die Gitarre nicht an, und als ich wieder zu Stoney gehen sollte, tat ich es einfach nicht. Es mochte ja sein, daß einem das Gitarrespielen gewisse Vorteile verschaffte, ein gewisses Ansehen. Aber es schien nicht so einfach zu sein, wie es aussah. Ich hatte gedacht, ich kriege ein paar Akkorde beigebracht und die halbe Welt liegt mir zu Füßen, wenigstens die weibliche Hälfte. Aber vom Gitarrespielen kriegte man rote Augen und entwickelte den Zwang, seine Fingernägel abzubeißen, und wenn man nicht aufpaßte, hockte man irgendwann bei Partys in
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