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Lied für eine geliebte Frau

Lied für eine geliebte Frau

Titel: Lied für eine geliebte Frau
Autoren: Erik Orsenna
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Zugs.»
    Â«Und ich bin nie ausgestiegen?»
    Â«Ã„ußerst selten …»
    Â«Dann war ich also unerträglich?»
    Â«Schlimmer noch. Verstehst du meine Frage? Ich würde gerne wissen: Wie sieht die Zukunft aus? War sie es wert, dass du gegenüber jeder Gegenwart so verächtlich warst, angefangen bei der Gegenwart mit mir? Und jetzt, wo du dein Ziel erreicht hast, wie fühlst du dich dort?»
    Â«Im Ernst?»
    Â«Im Ernst.»
    Â«Sehr gut.»
    Wieder einmal hatte meine frühere Frau mir ein Licht angezündet. Ihr scharfer Verstand ist, seit wir Freunde sind, eine Wonne, in unserem gemeinsamen Leben dagegen war er oft von eisiger Kälte gewesen. Außerdem: Die Liebe verurteilt, während die Freundschaft verzeiht. Ich erinnere mich daran, wie ihre Augen sich an mich hefteten. Ich erinnere mich, dass ich mich ständig versteckt habe, um ihrem unentwegten messerscharfen Blick zu entgehen. Wer kann ohne ein Mindestmaß an Schatten leben?
    Â«Könntest du nicht ab und zu deine Lichter ausschalten?», bat ich sie immer wieder.
    Â«Man hätte es wissen müssen», antwortete sie. «Ich dachte, du würdest die aufgeklärte Liebe vorziehen.»
    Tatsächlich hatte der Übergang von der Liebe zur Freundschaft – der Tausch des Alltags gegen weit auseinanderliegende Treffen – die gewünschte Pause, jene Unterbrechung des Blicks, ermöglicht.
    Wie üblich hatte sie mir den Weg gezeigt, ich musste ihm nur noch folgen. Was ich von mir selbst jemals verstanden habe, verdankte ich immer einer Frau, und zuallererst dieser Ex, die heute meine kleine Schwester ist.
    Ich hatte begriffen, dass jeder Mensch ein Gebiet der Zeit bewohnt und ihm nie entkommen kann.
    Manche Menschen leben in der fortdauernden Vergangenheit, es sind die mit der geringsten Lebenslust: Sehnsucht schadet dem Verlangen.
    Andere leben in der abgeschlossenen Vergangenheit: Sie brechen mit allem und jedem, keiner weiß, warum und wieso, vielleicht allein um der Freude willen, das Messer schneiden zu hören.
    Wieder andere Menschen sind imstande, in der Gegenwart zu leben: Mit ihnen kommt man am leichtesten aus, weil sie mit beiden Beinen im Leben stehen. Sie besitzen jene Höflichkeit, die man für banal und natürlich halten könnte, während sie in Wirklichkeit eine Seltenheit ist: die Höflichkeit da zu sein. Sie sind da, wenn sie sprechen, da, wenn sie ein Gericht kosten, und da, wenn sie in Wut geraten, da, und nicht woanders, wenn sie lieben. Und ich? War ich jetzt bereit für die Gegenwart, nachdem ich so lange in der Zukunft gelebt hatte?

 
    Â 
    Ich besuche sie häufig. Niemand weiß davon. Denn ich warte, bis der Friedhof leer ist. Was würde ich tun, wenn ich ihren Eltern begegnete, die ich gern habe? Ich glaube, dann würde ich mein Leben lang nicht mehr aufhören zu weinen. Ich möchte diesen Friedhof für uns beide allein haben. Außerhalb der Öffnungszeiten klettere ich, wenn nötig, über die kleine Friedhofsmauer. Ein Leichtes, denn sie ist nicht hoch. Dank sei ihr. Brest, Saint-Renen, Landunvez … Ich könnte die Strecke blind fahren. Übrigens glaube ich, dass ich wirklich die Augen schließe. Sonst würde ich nur Gewächshäuser für holländische Tomaten sehen, die sich an der Küste ausgebreitet haben. Mir sind die äolischen lieber.
    Wir haben jetzt unsere Gewohnheiten. Ich bleibe nicht lange vor dem Grab stehen. Ich sage ihr nur, «ich küsse dich». Ich lege zwei Blumensträuße nieder, einen von mir, einen von meinem Freund, ihrer dritten Liebe, die der meinen vorausging. Wir haben uns nicht abgesprochen, aber ich weiß, seit wir unser Vorhaben, mit ihrem Sarg durch die Welt zu ziehen, aus Schwäche und Trägheit aufgegeben haben, tut er dasselbe. Dann gehe ich wieder. Kaum habe ich dem Grab den Rücken zugewandt, fühle ich, dass sie da ist. Tote brauchen weniger Zeit als Lebende, um sich zum Ausgehen fertig zu machen. Vielleicht haben sie mehr Freizeit? Wenn ein Lebender sie abholt, sind sie bereit. «Wo gehst du heute mit mir hin?» Sie redet wie früher, mit dem Mund an meinem Ohr: Sie hatte immer Angst, dass ihr jemand die Worte stehlenkönnte, die für mich bestimmt waren. Nicht zu Unrecht: Es gab immer so viele Leute um mich herum.
    Wir beginnen immer mit den Orten, die sie am meisten mochte. Der Küste im Norden von Argenton, der Umgebung der Kirche
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