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Lied für eine geliebte Frau

Lied für eine geliebte Frau

Titel: Lied für eine geliebte Frau
Autoren: Erik Orsenna
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Liebe zweier Brüder ausrichten können, die zusammen mit ihnen auf die Welt gekommen war?
    Die Umstände waren insoweit gnädig, als an jenem Tag gutes Wetter war; es war einer jener Aprilvormittage, an denen einem die Sonnenwärme im noch winterlich klaren Licht wie etwas Neues vorkommt. Sprühregen oder ein starker Wind hätte die Stimmung aller verändert. Es war Flut, man konnte mühelos an der Insel anlegen: Eine Wanderung, selbst eine kurze, sorgt nicht gerade für gute Laune, wenn man bis zu den Knien im Schlick einsinkt. Und vor allem hatte die einzige Geliebte des Bruders mit der einzigen Liebe die mächtige Stimme der Höflichkeit nicht gehört (man macht sich nicht ausdem Staub, wenn die Gäste kommen) und war angeln gegangen (denn das war, neben der Liebe zu meinem Bruder, ihre andere Leidenschaft).

    Der ältere Bruder sagte nichts außer einem Wort, ihrem Vornamen, Isabelle, dann zog er sich zurück.
    Hinten im Zimmer starrten zwei Sessel auf den leeren Kamin (der Frühling begann). Der ältere Bruder wusste, dass sein Bruder in Sachen Sessel empfindlich war: Sie waren für die einzige Liebe reserviert. Eine zerstückelte Liebe war nicht würdig, darin zu sitzen. Er blieb stehen.
    Vor dem Bücherregal hatte er die Hand ausgestreckt und ein Buch herausgenommen.
Der zweite Weltkrieg
, von Zinston Churchill. Er vertiefte sich in den Bericht über die Bombardierung Londons. «Den 15. September muss man als den Höhepunkt ansehen … Es war eine der entscheidenden Schlachten des Krieges, und, wie die Schlacht bei Waterloo, fiel sie auf einen Sonntag …»
    Mit der Zeit hatte der ältere Bruder seine Strategie bei der Vorstellung seiner Geliebten verfeinert.
    Die ersten Male war er, geplagt vom Lampenfieber, seinen Geliebten nicht von der Seite gewichen. Er hatte sie am Arm gehalten, ihre Sätze ergänzt, die Gesprächspausen ausgefüllt.
    Bis er gemerkt hatte, dass er auf diese Weise Antipathien nie würde vermeiden können. Im Gegenteil, möglicherweise würde er so eine aufkeimende Herzlichkeit ersticken.
    Er hatte deshalb die Methode geändert und widerstand nun den Anflügen von Panik bei der Geliebten, ihren flehentlichen Blicken – lassen Sie mich nicht allein, tun Sie mir das nicht an –, machte sich schnell unsichtbar und verschwand in möglichst großer Entfernung.
    Der ältere Bruder vertraute von nun an allein seinem Ohr, um nichts von der Begegnung zu verpassen. Wenn mein Gehör nachlässt, sagte er sich, dann ist es höchste Zeit, mit diesen Vorstellungsbesuchen Schluss zu machen, und so auch mit der Liebe.

    Der jüngere Bruder und die neue Geliebte hatten sich einander gegenüber an den Küchentisch gesetzt, als wollten sie zusammen Gemüse putzen. «Ich bin Ärztin.» Welcher Geniestreich oder welcher ihr wohlgesinnte Gegenstand (ein scharfes Messer? eine Schachtel mit Heftpflaster? Nadel und Faden?) hatte die neue Geliebte dazu bewogen, gleich zu sagen, was sie von Beruf war?
    Â«Und ich Arzt», antwortete der jüngere Bruder.
    Ein ungeahnter Friede durchströmte den Älteren. Ein Friede in Form eines Fragezeichens, das jetzt eine Antwort erhielt. Genügte das für dieses Mal? Und vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben ruhig, ließ er die beiden plaudern, zwei Ärzte unter sich, und wandte sich wieder Churchill zu.
    Nach einer langen Weile schreckte ihn, trotz seines lebhaften Interesses am Gelesenen, ein Wort von der Lektüre auf.
    Â«Leichen …»
    Die beiden Gesprächspartner drüben am Küchentisch sprachen von Leichen. Und vom Leichensezieren.
    Besessen wie er war, glaubte der ältere Bruder einen Moment lang, sie sprächen von der Liebe, von der Zerstückelung der Liebe, von der unmöglichen Wiederauferstehung der toten Lieben. Er störte sich nicht an den verwendeten Begriffen, obwohl sie trivial waren: Erinnerst du dich, wie die Gehirne geblutet haben? Einmal hat man mir einen Magen auf mein Minikleid geworfen. Offenbar die übliche Sprache unter Medizinstudenten, dachte er. Verwirrt stellte er nur fest: Die beiden duzen sich ja.
    Er musste sich damit abfinden: Die zwei hatten ihn vergessen. Zum Glück winkte ihm Churchill einladend zu.
    Â«Nach einer Weile ließen die roten Lichter erkennen, dass die Mehrzahl unserer Staffeln im Kampf war. Ein gedämpftes Summen stieg vom Boden auf, wo die ‹Markierer›
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