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Lied für eine geliebte Frau

Lied für eine geliebte Frau

Titel: Lied für eine geliebte Frau
Autoren: Erik Orsenna
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je nach der schnell wechselnden Situation die Scheiben hin und her schoben.»
    Eine gute halbe Stunde später, als die Staffeln abermals in den Luftkampf starteten, verließ der englische Premierminister den Befehlsstand und tauchte wieder auf. Der ältere Bruder war der Ansicht, dass er den beiden Ärzten genug Zeit gelassen habe. Die neue Geliebte würde wütend sein. Ich erinnere Sie daran: Die Neuen waren immer wütend, wenn er sie allein ließ: «Wo sind Sie bloß gewesen? So kümmern Sie sich um mich? Das fängt ja gut an!» … Deshalb legte er Churchill auf den Boden, dankte dem Kamin ohne Feuer, dass er ihm Gesellschaft geleistet hatte, und machte sich auf den Weg zum Küchentisch.
    Was er hörte, überraschte ihn nicht: Sie waren noch immer bei ihrem Beruf, das heißt bei Leichen. Schnitt,Resektion, Exhärese, Dekapsulation … Doch was er sah, machte ihn sprachlos: Die Augen seines Bruders und seiner neuen Geliebten schimmerten vor Tränen.
    Â«Nie habe ich diese geöffneten Bäuche vergessen. Ich war zwanzig und schwanger.»
    Â«Bei mir ist es der Geruch. Er klebt an mir wie … wie der Schatten am Körper.»
    Â«Wir waren jung. So jung, erinnern Sie sich?»
    Â«Und sie ließen uns einfach so, ohne jede Vorbereitung, auf den Tod los.»
    Â«Deshalb gibt es so viele barbarische Ärzte.»
    Â«Zweifellos, zweifellos.»
    Einer wiederholte und bestätigte den andern, «zu dumm», «zu dumm aber auch», doch ihre Augen glänzten weiter.
    Churchill leistete einen letzten Dienst und lieferte ein Gesprächsthema, das perfekt dazu geschaffen war, dieses unangenehme Gefühl zu zerstreuen.
    Â«Ihr müsst einmal das Kapitel über London lesen. Er hat seinen Nobelpreis wohl verdient.»
    Â«Welchen Nobelpreis?»
    Bei dieser überraschenden, aber nachprüfbaren Information – Winston Churchill bekam 1947 den Literaturnobelpreis – kehrte die Frau der einzigen Liebe, die selbst eine einzige Liebe war, vom Angeln zurück und zeigte mit betrübtem Gesicht ihren leeren Korb vor. Der jüngere Bruder sprang auf, um sie zu trösten.
    Â«Mein Schatz, du weißt doch, das Wasser ist noch zu kalt für Seebarsch!»
    Der große Bruder sagte sich zunächst, die Hauptaufgabe der Liebe sei eindeutig, Entschuldigungen für den anderen zu finden. Doch dann dachte er bei sich, dass esein Festtag war, denn heute fand das mühsame Vorstellungsritual ein Ende. Sein Bruder hatte den Arm um Isabelles Schulter gelegt.
    Â«Unsere Familie wächst.»
    Die einzige Liebe sperrte angestrengt ihre Schlitzaugen auf. Sie hatte wohl zu lange ins Meer gestarrt. Sie hatte Salzspuren, das Salz von Tränen, in den Augenwinkeln.

 
    Â 
    Nicht dass Sie glauben, mein Bruder mit der einzigen Liebe hätte das Monopol auf den Ritus des gemeinsamen Abendessens gehabt. Vierteljährlich war ich in einem Fischrestaurant an der Place de la Catalogne verabredet. Ich war immer als Erster da. Wenig später kam die Mutter meiner Kinder herein, die wie üblich viel beschäftigt war, sodass wir keine Zeit verloren. Sie kam sofort zur Sache. Aufgrund komplexer chemischer Vorgänge und ohne allzu viel offenkundiges Leiden (ich würde sogar sagen, mit tiefer Erleichterung) hatte sich die einstige Gattin in etwas noch Besseres als eine Freundin verwandelt: meine zweite kleine Schwester.
    Â«Und, was macht die Zukunft?»
    Â«Nun ja … Ich habe das Gefühl … hm … Die Jahre vergehen, aber ich habe das Gefühl, ich bin jetzt angekommen.»
    Â«Das habe ich gemerkt. Die Jahre unseres Zusammenlebens werden also unsere Jugend gewesen sein: Du bist gereist, und ich bin daheim geblieben. Du bist in einem Zug gesessen, aus dem du nie ausgestiegen bist, und ich bin auf dem Bahnsteig zurückgeblieben.»
    Â«Aber der Zug fuhr, oder?»
    Â«Natürlich, und zwar ziemlich schnell. Und als du weg warst, hat sich auch mein Bahnsteig in Bewegung gesetzt.»
    Â«Und wohin fuhr mein Zug deiner Meinung nach?»
    Â«In die Zukunft, ist doch klar! Erinnerst du dich nicht mehr? Deine ganze Kraft, deine ganze Aufmerksamkeitwar auf die Zukunft gerichtet: deine künftige Stellung, deine künftige Anerkennung, die Freiheit, die dir deine künftige Stellung und deine künftige Anerkennung verschaffen würden.»
    Â«Ich war also nie da?»
    Â«Ich kannte dich nur hinter der Scheibe dieses
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