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Lied für eine geliebte Frau

Lied für eine geliebte Frau

Titel: Lied für eine geliebte Frau
Autoren: Erik Orsenna
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Schlimm genug, dass man alle Kriege (die Kolonialkriege) verlor, die man führte. Aber noch schlimmer war es, alle Einheimischen im Stich zu lassen, die an Frankreich geglaubt hatten. Als die französische Armee aus Algerien abzog, rannten die Harkis hinterden Lastwagen her und bettelten, man möge sie mitnehmen. Um sie loszuwerden, schlugen die Soldaten auf ausdrücklichen Befehl mit den Gewehrkolben auf die Hände derer, die sich an die Rüstleitern klammerten. Die Armen werden kaum Zeit gehabt haben, über ihre gebrochenen Finger zu jammern, werden Sie mir sagen, da der FLN , der Front de Libération Nationale, sogleich kurzen Prozess mit ihnen machte. Aber diese Freunde, die mit ausgestreckten Händen durch den Staub rannten, sind seine Gespenster. Seitdem interessiert sich der Vater nur noch für Vögel.
    Die Mutter hat, wie ich Ihnen bereits sagte, zum Beruf, die Sprache wieder in die rechte Bahn zu lenken. Mit anderen Worten, sie ist Logopädin. Aber sie hat eine eigenwillige Methode. Zwanzig Jahre lang hat sie im großen psychiatrischen Krankenhaus Sainte-Anne Kindern mit schweren seelischen Verletzungen Geschichten erzählt. Am besten gewirkt hat anscheinend die Geschichte von Odysseus.
    Wo, in welcher Gesellschaft könnte ich sie lassen, die besser wäre als die ihrer Eltern?
    Ich folge dem Weg bis zur Landstraße. Ohne mich auch nur einmal umzudrehen. Ich möchte ihre blauen Augen nicht sehen.

 
    Â 
    Es gibt ein Gespenst, das jederzeit erscheinen kann, ohne Vorwarnung, mitten beim Essen, auf einem Spaziergang, sogar beim Liebesspiel, ein Gespenst, gegen das Tanzen nicht hilft: der Verlustschmerz.
    Die Frau an Ihrer Seite wundert sich, macht sich Sorgen. Sie sagen ihr: Es ist nichts Ernstes, alles ist gut. Sie hüten sich, ihr den Namen, den Vornamen zu diesem Schmerz zu verraten.

    Mille Regretz
.
    Und dieses traurige Lied soll das Lieblingslied der Renaissance gewesen sein?
    Mille regretz de vous habandonner
,
Et deslonger vostre fache amoureuse
,
J’ay si grand deuil et paine douloureuse

Qu’on me verra brief mes jours definer.
    Tausendfaches Leid, dass ich Sie verlassen muss
Und verzichten auf den Anblick Ihres geliebten Gesichts,
Meine Trauer ist so groß, mein Kummer so schmerzvoll,
Dass man mich bald meine Tage wird beenden sehen.
    Ich dachte eigentlich immer, die Frauen und Männer der Renaissance seien fröhlich gewesen. Was faszinierte sie sosehr an dieser kleinen Geschichte über das Leid? Das traurige Lied vom Abschied für immer hat sie wahrscheinlich beruhigt angesichts der vielen Entdeckungen, der vielen fragwürdig gewordenen Gewissheiten, die sie schwindelig machten. Vielleicht war es ihr geschützter Bereich, das eingezäunte Stück Land, das man beherrscht.
    Niemand weiß, wer der Verfasser dieser vier Verse ist. Doch zahllos sind diejenigen, die sie vertont haben, vom Norden bis zum Süden Europas.
    Der Erste soll Josquin des Prés gewesen sein, geboren 1450 in Beaurevoir in der Picardie, gestorben 1521 in Condé-sur-Escaut, ein Sänger und späterer Chorleiter und ein sehr produktiver Komponist. Sein Leben lang reiste er umher. Nie schloss er sich für längere Zeit einem Lehrmeister an. Angeblich hat er auch die Polyphonie erfunden. Vielleicht suchte er nach ihr auf seiner ständigen Wanderschaft.
    Nicolas Gombert komponierte eine andere, berühmt gewordene Fassung. Auch er stammte aus Flandern, war aber zwei Generationen später, um 1495, geboren. Im Namen seines Heimatdorfs La Gorgue steckt das flämische Wort «goor» für «schlammig, sumpfig». Verständlich, dass einen dort das Bedürfnis nach zarten, ätherischen Melodien überkommen konnte. Auch er begann als Sänger. Eines Tages wurde er zur Strafe auf die Galeeren geschickt: Er hatte in seinem Chor ein Kind vergewaltigt. Laut Gerolamo Cerdano, dem Gelehrten, Physiker und Freund da Vincis, starb Gombert an Melancholie.
    Andere, viele andere haben sich an der Vertonung dieses tausendfachen Leids versucht. Unter ihnen Männerwie Luiz de Narvaes und Christobal de Morales, der Bariton der Sixtinischen Kapelle, der daraus sogar eine ganze Messe machte.
    Wo und wann hat Karl V. die
Regretz
zum ersten Mal gehört? Vielleicht in seiner Geburtsstadt Gent, vielleicht hat seine Amme das Lied leise vor sich hingesummt?
    Man erzählt, er habe dieses Lied geliebt wie kein anderes. Er ließ es sich wieder und wieder
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