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Lieber Osama

Lieber Osama

Titel: Lieber Osama
Autoren: Chris Cleave
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und 2 solche Anzugträger versuchten, ihn ihr abzunehmen. Sie hatte die Türen verriegelt, klammerte sich ans Lenkrad und schrie die 2 Typen an, sie sollten verschwinden, aber man konnte sie nicht hören. Man sah nur ihr schreckensbleiches Gesicht hinter der Windschutzscheibe, wie in der Glotze bei abgestelltem Ton. Die 2 Typen ließen die Türgriffe nicht los, und wegfahren konnte sie auch nicht wegen der vielen Menschen. Die 2 Typen fingen an, den Wagen zu schaukeln und brüllten sie an, aufzumachen.
    - Meine Frau!, schrie der eine. Meine Frau ist noch zu Hause, ich muss sofort zu ihr. Mach die Tür auf, du Schlampe, du hast noch 4 freie Plätze.
    Dann knickte die Frau über dem Lenkrad ein und heulte den Wagenboden an. Die dumme Kuh begriff wahrscheinlich gar nicht, was los war. Noch vor einer Minute hatte sie sich Gedanken über die fallenden Immobilienpreise gemacht, und jetzt steckte sie mitten in einer Massenpanik. Dann klinkte einer der Typen völlig aus, ich sah es seiner Miene an.
    -Wie du willst, rief er. Dann pass mal gut auf, was ich jetzt mache.
    Mit jedem Wort flog ihm der Geifer aus dem Mund und klatschte auf die Windschutzscheibe. Er lief zum Heck des Range Rovers und machte den Tankdeckel auf.
    - O mein Gott, nein, bitte nicht.
    Der Kerl holte sein Zippo aus der Tasche und sah mich an, aber sein Blick war vollkommen leer. Er machte das Zippo an und ließ es in die Tanköffnung rutschen.
    - Da, du Fotze, rief er.
    Im nächsten Moment schoss eine gewaltige Stichflamme aus dem Tank und riss ihn von den Beinen. Plötzlich lag er mit brennendem Anzug auf dem Boden. Der Anzug war in Benzin nur so getränkt und brannte hell und kräftig. Der Anblick war so erschreckend, dass die Menge zurückwich und einen Kreis um ihn bildete. Man sah Gesichter erblassen vor dem verregneten Grau des Himmels, man sah, wie die Flammen in ihren Augen glitzerten und ihre Nasen dunkel und scharf hervorstanden.
    Der andere Typ, der auch in den Range Rover gewollt hatte, rannte einfach weg. Ich roch, dass das Feuer meine Haare angesengt hatte, und wich in die Menge zurück. Die Frau stieg aus und sah wie alle anderen den Mann verbrennen. Die Flammen schlugen mehrere Meter hoch, während sich der Mann auf dem Boden wälzte und wild um sich schlug. Erst schrie er noch nach seiner Mutter, dann schrie er nur noch so, und wer genau hinsah, dem fiel auf, dass er am Ende seinen Kopf wieder und wieder auf den Asphalt schlug. Er versuchte, sich selbst auszuknocken, und ich hoffe nur, er hat’s geschafft.
    Nach einer Weile rührte er sich nicht mehr, und jemand rief, wir sollten abhauen, bevor der Wagen in die Luft flog. Wieder geriet alles in Panik und trat und boxte, um möglichst schnell wegzukommen. Ich bekam nicht mehr mit, wie der Range Rover explodierte, sondern hörte nur ein lautes WOMMM und spürte die Hitze im Rücken. Noch mehr Schreie, und ich rannte weiter. Eine schwarze Barrikade aus Mannschaftswagen verhinderte, dass wir die Horseferry Road hinaufliefen, Wasserwerfer waren auf uns gerichtet, Tränengasgranaten flogen. Eine explodierte direkt vor mir, und ich rannte blind und röchelnd weiter.
    Wenn man Tränengas abkriegt, fühlt sich jeder Atemzug an, als müsste man sterben, es ist ganz furchtbar. Inzwischen strömte die Menge auf die Lambeth Bridge, und ich immer mit, während mir Rotz und Wasser übers Gesicht liefen. Aber auf der Brücke wurde alles nur noch schlimmer, weil sie viel zu schmal war für so viele Menschen. Man sah gleich, dass es bei diesem Tempo nicht alle auf die andere Seite schaffen würden, 10.000 Menschen sind kein Pappenstiel, und es drängten immer mehr nach, da kann kein Mensch mehr anhalten. Um jeden Zentimeter Platz wurde geboxt und gerungen, und als ich mit meinen verquollenen Augen endlich wieder was erkennen konnte, sah ich, dass viele unter die Räder kamen. Mittlerweile verstopfte die Brücke immer mehr. Ich wurde langsam in Richtung Geländer gedrängt und sah Leute ins Wasser fallen. Ich schlug und trat um mich wie alle anderen auch, trotzdem geriet ich immer näher an den Rand. Als ich schließlich selbst hinunterfiel, war das fast eine Erleichterung, weil es plötzlich kein Geschrei und Gedrängel mehr gab. Nur ein frischer Luftzug, während ich fiel, und dann der harte Aufschlag in die kalte Themse.
    Ich fiel mit den Füßen voran und tauchte ziemlich tief ein. Ich kann nicht schwimmen, Osama, ich habe es nie gelernt. Also, wozu musste man im East End auch schwimmen können. Wasser
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