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Lieber Osama

Lieber Osama

Titel: Lieber Osama
Autoren: Chris Cleave
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als 20 Zentimeter aus dem Wasser. Wellen brachen sich darauf, und langsam zog die Strömung es weiter.
    Der Lärm der Menge auf der Brücke nahm ständig zu, und immer wieder klatschten ganz in der Nähe Leute ins Wasser. Ich dachte: Wenn das so weitergeht, bist du geliefert. Ich musste mit dem Kopf gegen meine Finger schlagen, damit sie endlich losließen, dann stieß ich mich ab Richtung Boot. Ich war schon halb untergegangen, als ich endlich den Kiel zu fassen bekam. Aber meine Hände rutschten ab, und ich dachte: Ich hab’s wenigstens versucht. Aber dann hatte ich doch Glück und erwischte die Schiffsschraube. An der zog ich mich hoch, bis ich bäuchlings auf der Unterseite des Bootes lag, um mich herum nichts als schwappende Themse.
    So trieb ich den ganzen Tag, bis es dunkel wurde, aber niemand kam mir zu Hilfe. Ich schätze, die Leute hatten eben anderes zu tun. Das Schlimmste war die Kälte. Die meiste Zeit hielt ich die Augen fest geschlossen, weil ich den Anblick all der Leichen nicht ertragen konnte, die mit mir den Fluss hinabtrieben.
    Als ich Stunden später doch mal die Augen aufmachte, trieb ich gerade unter der Southwark Bridge hindurch, und weiter im Westen, hinter dem Schutzschild der Hoffnung, versank eine gelblich kranke Sonne. Der Schrei einer Möwe hatte mich hochfahren lassen. Ein asiatischer Junge, vielleicht 16 oder 17 Jahre alt, trieb etwa zwei Meter entfernt zwischen meinem Boot und dem Sonnenuntergang. Er trieb mit dem Gesicht nach oben, und er trug eine McDonald’s-Uniform: graue Polyesterhose, rotbraunes, kurzärmeliges Hemd, rotbraune Baseballkappe. Die Möwe steckte den Kopf unter den Schirm der Kappe, um an sein linkes Auge zu kommen. Der Junge hatte ein Namensschild, auf dem stand: HI, mein Name ist NICK, was kann ich für Sie tun? Er hatte 2 von 5 möglichen Leistungssternen auf seinem Namensschild, und sie glitzerten in der untergehenden Sonne.
    Danach muss ich wohl eingeschlafen sein. Obwohl man von Schlaf eigentlich nicht sprechen konnte, denn sobald ich wegdämmerte, spürte ich, wie meine Finger losließen, und dann war ich wieder hellwach. Stundenlang ging das so, bis ich endgültig die Augen aufriss, als es einen Stoß gab, weil mein Boot irgendwo aufgelaufen war. Es war dunkel, und etwas Riesiges erhob sich vor mir. Ich schrie auf und streckte die Hand aus, um das Ding von mir fernzuhalten, bis ich kapierte, dass es die Tower Bridge war. Es herrschte Ebbe, und mein Boot steckte im Uferschlamm auf der Nordseite fest.
    Ich ließ mich vom Kiel in den weichen, zähen Schlamm gleiten. Dieser Modder war eine absolute Schande. Er war so alt wie London, und ich schwöre, er stank nach Krankheiten, die man seit 500 Jahren nicht mehr kennt. Die ganze Stadt ist auf Pestkuhlen und Pechnasen errichtet. Bis zum Oberschenkel versank ich im Ekel erregenden Matsch und kotzte und heulte und kotzte wieder. Als ich mich ausgekotzt hatte, watete ich durch den Schlamm bis zur Ufermauer. Dort waren Eisenringe eingelassen, an denen zog ich mich hoch. Ich durfte bloß nicht aufhören, mich zu bewegen. Ich war müde und völlig durchgefroren, und besonders sportlich war ich auch nie gewesen.
    Ich kam unten am Tower heraus. Alles war still, kein Mensch auf der Straße. Ich hatte im Fluss meine Schuhe verloren und ging, die Arme um mich geschlungen, mit nackten Füßen über das Pflaster. Mir war so kalt, dass ich zitterte wie unsere Waschmaschine im Schleudergang. Von oben bis unten voll stinkendem Matsch, ging ich an den hohen Mauern des Towers entlang. Zu meinen Füßen flitzten schwarze Ratten quiekend umher. Die Straßenbeleuchtung war aus, die Nacht stockdunkel. Aber der Regen hatte aufgehört. Durch einzelne Wolkenlücken konnte man einen schmalen Sichelmond sehen, und die Sterne schienen sehr hell.
    Ich ging, so schnell ich konnte, damit mir warm wurde, den Kopf gesenkt, nicht nur wegen der Kälte. Man konnte keinen Meter weit sehen, und ich wollte ungern in was Fieses treten. Die Kirchenglocken läuteten 10 Uhr. Trotz der Hubschrauber in der Luft hörte man diese riesigen Glocken. Die Hubschrauber waren überall, und einer davon ging über dem Tower herunter und folgte seinem eigenen Scheinwerfer über das nasse Pflaster. Ich presste mich mit dem Rücken an die Wand und sah den Lichtkegel über die Stelle gleiten, an der ich gerade noch gegangen war. Der Kegel wanderte weiter über die Straße, blieb aber dann stehen, weil er plötzlich einen Mann erfasste.
    Der Mann war nackt, und seine
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