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Lieber Osama

Lieber Osama

Titel: Lieber Osama
Autoren: Chris Cleave
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zerschlagenen Fensterscheiben in der ganzen Wohnung zog. Überall lagen Scherben auf dem Boden, und von draußen kam der Geruch brennender Autoreifen. Ich ging ins Bad und schaltete das kleine batteriebetriebene Radio ein. ES GIBT KEINERLEI GRUND ZUR BEUNRUHIGUNG, hieß es. Ich ließ mir ein Bad einlaufen und ging zurück in die Küche, wo ich 4 Pillen einwarf und sie mit Wodka runterspülte. Dann öffnete ich den Brief.
     
     
    Meine liebe Freundin,
    was soll ich nach alledem bloß sagen? Vielleicht denken wir lieber an die glücklichen Zeiten. Ich fand es so schön, zusammen mit dir Klamotten einzukaufen, und ich vergesse nie, wie hinreißend du in ihnen aussahst. Aber trag sie auch ab und zu und dann sage dir, dass ich dich nicht nur hintergangen habe. Wahrscheinlich hasst du mich dafür, dass ich mich so und nicht anders entschieden habe. Aber ich habe wirklich lange darüber nachgedacht und bin am Ende zu dem Schluss gekommen, dass es in diesem Land niemandem hilft, wenn wir die Story veröffentlichen. Die Zeitung hat mich in dieser meiner schwierigen Entscheidung sehr unterstützt, wodurch sich in Zukunft für mich einige wundervolle Möglichkeiten eröffnen. Was wiederum bedeutet, dass mein Sohn später abgesichert ist und sorgenfrei aufwachsen kann. Du hast ja ein mitfühlendes Herz, und ich hoffe, du verstehst mich eines Tage zumindest so weit, dass du mir verzeihen kannst. Als Mutter begreifst du ohnehin, dass wir immer das tun müssen, was für unsere Kinder am besten ist. Deine Freundin Petra Sutherland.
    Ich verbrannte den Brief und ließ die Asche auf den Küchenboden fallen. Ich nahm die Kerzen mit ins Badezimmer. Das Radio sagte: NACH ERSTEN SCHÄTZUNGEN GEHEN DIE BEHÖRDEN VON 100 BIS 120 TODESOPFERN AUS. FÜR ANGEHÖRIGE UND FREUNDE VERMISSTER PERSONEN WURDE EINE HOTLINE EINGERICHTET UNTER –
    Ich schaltete das Radio aus, legte mich in die Wanne und tauchte unter, aber noch über die Wasserleitungen war das Geknatter der Hubschrauber zu hören. Ich lag da, bis das Wasser kalt war und die Kerzen ausgingen.

 

     
     
     
    L IEBER O SAMA , die kaputten Fensterscheiben habe ich mit Zeitungspapier abgeklebt, aber trotzdem war es die ganze Zeit eiskalt in der Wohnung. Ich tröste mich mit den kleinen Dingen des Lebens, zum Beispiel, wenn die Tauben über die Dächer fliegen. Oder mit dem Raureif auf den Autos an einem strahlenden Wintermorgen. Ich habe einen Brief von Terence Butcher bekommen, auf dünnem blauem Papier, und die Schrift war ganz zittrig und wurde am Ende so schlimm, dass man kaum noch was lesen konnte. Ich hätte gern geantwortet, aber es gab keinen Absender.
    Seit dem Brief habe ich Angst, dass sie als Nächstes zu mir kommen und mich in einem ihrer Astras abholen. Keine Ahnung, wovon seine Schrift so krakelig geworden ist, aber ich kriege weiche Knie bei dem Gedanken, dass sie dasselbe auch mit mir machen könnten. Es waren auch schon mal 2 Zivilbeamte da, die blieben aber nicht lange, wollten nicht mal was trinken. Ich habe ihnen meinen Jungen gezeigt und gesagt: Hören Sie, Sie können mich nicht einfach mitnehmen, was soll denn aus ihm werden? Die Männer sahen sich erst gegenseitig an, dann wieder mich, und einer von ihnen sagte: In Anbetracht der Umstände sehen wir vorerst von einer Strafanzeige ab. Darauf ich: Oh, das ist ja prima. Dann der andere: Dennoch, Madam, wird Ihnen Ihre Witwenrente aberkannt. Und ich wieder: Das soll wohl ein Witz sein? Weshalb denn? Und wovon soll ich dann leben? Darauf der Mann: Das hätten Sie sich überlegen sollen, bevor sie Dienstgeheimnisse an die Presse weitergegeben haben.
    Viel blieb mir danach nicht mehr zum Leben. Jaspers Bankkarte war nutzlos, denn sie lag irgendwo im Schlamm der Themse. Also zog ich den Teppich beiseite und holte all die Fünfer raus, meine ganze Reserve aus der Zeit, als mein Mann noch gespielt hatte. Damit machten wir uns eine schöne Zeit, ich und mein Junge. Er bekam jeden Tag Stracciatella-Eis, und ich bekam meinen Wodka, aber nicht dieses No-Name-Zeug, sondern den guten von Absolut, und so war gegen Ende des Monats das Geld alle. Aber ich raffte mich auf und tat das, was du in dieser Lage auch getan hättest, Osama: Ich besorgte mir einen Job und füllte im Tesco Metro auf der Bethnal Green Road Regale auf.
    Ich musste vorher bloß so einen Fragebogen ausfüllen. Auf dem stand unter anderem, warum ich bei Tesco arbeiten wollte, und ich schrieb: WEIL MEIN MANN UND MEIN JUNGE NEULICH VON ISLAMISCHEN TERRORISTEN IN
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