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Lieber Osama

Lieber Osama

Titel: Lieber Osama
Autoren: Chris Cleave
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ein. Damit sind wir gemeint. Wie gesagt, wir sind Millionen. Auch wenn seit einiger Zeit eine ganze Reihe fehlen. Und zwei davon, mein Mann und vor allem mein Junge, fehlen mir wahnsinnig.
    Mein Mann, mein Junge und ich wohnten in der Barnet Grove, das ist eine Straße zwischen Bethnal Green und Haggerston. In der Barnet Grove gibt es 2 Arten von Häusern. Einmal die teuren alten Reihenhäuser. Immobilienmakler nennen so was gern «ein Schmuckstück von georgianischer City-Residenz mit Nutzungsmöglichkeit als Büroraum, hervorragender City-Anbindung und attraktiver Nähe zum berühmten Blumenmarkt auf der Columbia Roach. Und dann die Wohnblocks, in denen unseresgleichen lebt. Schmutzige Ziegeltürme, in denen es nach Frittierfett riecht. Die Wohnungen dort sind alle gleich, bloß dass die Türen längst nicht mehr zueinander passen, weil sie so oft eingetreten werden. Diese Blocks stammen aus den Fünfzigern. Mit denen hat man damals die Baulücken gefüllt, die Adolf Hitler hinterließ, als er Brandbomben auf die georgianischen Schmuckstücke warf Adolf Hitler war der Letzte, der London so gehasst hat wie du, Osama. Die Sun nennt ihn den GRÖSSTEN SCHURKEN DER GESCHICHTE, und von ihm stammt das Loch an der Barnet Grove, in das sie unseren Wohnblock gesetzt haben. Ich schätze mal, ihm verdanken wir, dass wir heute «in attraktiver Nähe zum berühmten Blumenmarkt in der Columbia Road» wohnen, insofern war auch an Hitler nicht alles schlecht.
    Wie gesagt, wir wohnten in einer dieser Wohnungen. Eine kleine Wohnung und so hellhörig, dass man den Nachbarn von oben beim Vögeln zuhören konnte. Das ging immer ziemlich leise los, so ah-ah-ah, dann lauter oh-oh-oh-mein-Gott, und am Ende wusste man nicht, ob die jetzt vögelten oder einander umbrachten. Meinen Mann hat das immer in den Wahnsinn getrieben, aber zumindest war die Wohnung warm und sauber. Außerdem gehörte sie uns, wir hatten sie gekauft, eine ehemalige Sozialwohnung. Was bedeutete, dass wir uns nicht jeden Monat mit der Miete abstrampeln mussten. Stattdessen strampelten wir uns mit der Hypothekenrate ab, aber das ist ein Unterschied, und dieser Unterschied heißt EIGENHEIMZULAGE.
    Ich habe zu der Zeit nicht gearbeitet, sondern mich um meinen Sohn gekümmert. Das Geld, das mein Mann verdiente, reichte gerade für die Hypothekenrate und das Nötigste, sodass es gegen Monatsende immer ganz schön eng wurde. Mein Mann war Polizist, aber nicht irgendeiner, sondern vom Sprengmittelräumdienst. Man sollte glauben, jemand vom Sprengmittelräumdienst müsste ein kleines bisschen mehr nach Hause bringen als mein Mann, aber ich sage dir, Osama, wenn du die Pferde- und die Hunderennen reinrechnest und die Hahnenkämpfe im Hinterzimmer von Nelson’s Head oder die Wette, ob die nächsten Weihnachten weiß werden, dann reicht es hinten und vorne nicht. Mein Mann gehörte zu der Sorte, die diesen Nervenkitzel braucht. Gott sei Dank machte er mit seinen Bomben einen besseren Schnitt, da ließ er nichts anbrennen. Und wenn wir wieder mal mit den Rechnungen im Rückstand waren, hatte ich jedes Mal eine Heidenangst vor dem Gerichtsvollzieher. Sooft ich konnte, zweigte ich einen Fünfer vom Haushaltsgeld ab und versteckte ihn unter dem Teppich, nur für den Fall, mein Mann verzockt irgendwann auch den allerletzten Penny und sie schmeißen uns aus der Wohnung. Aber mehr als eine Monatsrate lag nie unter dem Teppich, was bedeutete, mehr als 31 Tage waren wir nie vom Rauswurf entfernt. Oder 28, wenn es ein Februar war, was meinem Mann aber auch schnurz gewesen wäre, wie ich ihn kenne. Trotzdem konnte ich ihm nicht mal einen Vorwurf machen, denn er brauchte die Wetten für seine Nerven, und das, Osama, war auch nicht schlimmer als das, womit ich meine Nerven beruhigte, wenn es nicht anders ging. Davon gleich.
    Beim Sprengmittelräumdienst kann zu jeder Tages- und Nachtzeit ein Alarm eingehen. Und bei meinem Mann war das häufig der Fall. Oft auch abends, wenn wir vor der Glotze saßen. Und nicht viel sagten. Nur einfach mit unserem Teller mit Chicken Kiew vor dem Fernseher saßen. Das Chicken Kiew war von Findus, also durchaus genießbar, ein Lieblingsessen von meinem Mann.
    Jedenfalls lief meistens die Glotze, wo wir uns zum Beispiel Top Gear ansahen, die Autosendung, wenn der Anruf kam. Mein Mann verstand ja was von Autos, obwohl wir uns nie einen Neuwagen leisten konnten. Höchstens einen ausgedienten Streifenwagen, also meistens einen Vauxhall Astra, aber da hatte er ein
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