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Lieber Osama

Lieber Osama

Titel: Lieber Osama
Autoren: Chris Cleave
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Haut glänzte bläulich in dem gleißenden Strahl. Er schien noch gar nicht so alt, vielleicht 20, und sein ganzer Körper war blutüberströmt. Das Blut kam aus seinem Mund, und man sah auch, warum: Er hatte sich die halbe Zunge abgebissen und war offenbar noch längst nicht fertig damit. In der einen Hand hielt er ein Metzgermesser, mit der anderen spielte er an sich selbst. Als er sich im Strahl des Scheinwerfers gefangen sah, blickte er genau dorthin ins Dunkel, wo ich mich versteckt hatte, und brüllte vor Wut. Dann muss ihn wohl jemand vom Hubschrauber aus erschossen haben. Im Lärm der Rotoren hörte ich zwar keinen Schuss, aber ich sah aus seinem Hals eine rote Fontäne spritzen. Ganz langsam und gemächlich setzte er sich auf seinen nackten toten Hintern und hielt dabei weiter sein Ding fest. Der Scheinwerfer blieb auf ihn gerichtet, bis die ersten Ratten durch den Lichtkegel huschten. Dann entschwebte der Hubschrauber zurück in die Nacht.
    Heute glaube ich, der Typ war ein Geisteskranker, der in der allgemeinen Panik geflohen war, aber in dem Augenblick verstand ich überhaupt nicht, was los war. Ich dachte, alle wären so durchgedreht. Ich muss dir nicht extra sagen, Osama, dass ich danach doppelt vorsichtig war, und so brauchte ich geschlagene 2 Stunden bis nach Bethnal Green. Ich mied die Straßen, ging durch Seitenwege und Gassen und schlich mich durch Gärten wie ein Fuchs. Sobald ich mich einer größeren Straße auch nur näherte, sah ich überall Soldaten. Sie hatten Maschinenpistolen und gepanzerte Fahrzeuge, und an einigen Stellen standen sogar ausgewachsene Panzer, obwohl mir nicht klar war, wozu die gut sein sollten.
    Andere Menschen sah ich kaum, und wenn, dann waren es auf jeden Fall keine Unholde oder Menschenfresser, sondern ganz normale Leute wie ich in Nike- und Puma-Klamotten, die nur versuchten, trotz der Ausgangssperre irgendwie nach Hause zu kommen. Im Halblicht der Hubschrauber sahen wir uns an, und auf jedem Gesicht stand derselbe Ausdruck. Ich meine, so sahen Menschen aus, die am Morgen nicht den blassesten Dunst gehabt hatten, was an diesem Tag auf sie zukommen würde.
    Als ich in der Barnet Grove ankam, herrschte dort Totenstille. Kein Mensch auf der Straße wegen der Ausgangssperre, aber auch keine Lichter an, weil der Strom mal wieder ausgefallen war. Ein halbes Dutzend Autos brannte auf der Straße, doch keiner kümmerte sich darum. Geschmolzenes Gummi von den Reifen floss durch den Rinnstein. Es kochte und blubberte wie Lava und fiel zischend in die Gullys. Es stank entsetzlich.
    Vor der Siedlung wartete schon mein Junge auf mich und winkte mir zu.
    - Ach, du mein armer Schatz, alles in Ordnung?
    Mein Junge grinste und setzte sich in eins der brennenden Autos, direkt auf die weiß glühenden Sprungfedern des Beifahrersitzes. Aus den Flammen heraus lächelte er mir zu, während die Windschutzscheibe sprang und in tausend Stücke zerplatzte.
    Ein Hubschrauber hing tief über dem anderen Ende der Straße. Er kam in unsere Richtung. Seine Rotorblätter fachten die gelbroten Flammen zu einem glühweißen Sturm an. Mein Junge schaute hoch. Er war ganz aufgeregt. Der Hubschrauber kam näher. Man hörte seine Rotoren über den fauchenden Flammen. Mein Junge steckte den Kopf durch das geschmolzene Glas der Beifahrerscheibe, um sich den Hubschrauber anzusehen. Hubi, sagte er. Hubi, Hubi, Hubi. Er mochte das Wort schon immer.
    Der Suchscheinwerfer richtete sich auf uns und blieb da. Er war gleißend hell wie ein Kamerablitz und blendete mich. Vom Himmel herab blökte eine Megafonstimme: KEINE BEWEGUNG, BLEIBEN SIE, WO SIE SIND, sagte die Stimme. SIE HALTEN SICH VORSCHRIFTSWIDRIG IM ÖFFENTLICHEN STRASSENRAUM AUF. ICH WIEDERHOLE: BLEIBEN SIE, WO SIE SIND. Das hättest du wohl gern, dachte ich. Ich bleibe doch nicht hier stehen, bis einer von euch Revolverhelden mich in Ruhe abknallen kann. Deshalb nahm ich die Beine in die Hand und rannte, so schnell ich konnte, in die Siedlung, hinter mir her mein Junge, der in den brennenden Himmel schrie: LASST MEINE MAMI IN RUHE.
    Im Treppenhaus unseres Wohnblocks musste ich mich erst mal hinsetzen, um wieder Luft zu kriegen. Zitternd saß ich eine halbe Stunde da, bis ich die Kraft hatte, die Treppe zu unserer Wohnung hochzusteigen.
    Jemand hatte einen Brief unter die Tür geschoben, und als ich geöffnet hatte, hob ich ihn auf. Ich legte ihn auf den Küchentisch und zündete mehrere Kerzen an, aber die flackerten sehr, weil es wegen der
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