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Die Wundärztin

Die Wundärztin

Titel: Die Wundärztin
Autoren: Heidi Rehn
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Prolog
    Magdeburg
    Ende Mai 1631
    F ür einen Moment wurde es totenstill in dem schmalen Hof. Mitten im Zank hielten die beiden Mädchen inne. Der eben noch straff gespannte Stoff schlackerte schlaff in ihren Händen. Ein Ruck würde genügen, ihn der anderen zu entreißen. Keine von beiden aber wagte, sich zu rühren. Stocksteif standen sie einander gegenüber, die Augen weit aufgerissen. Angst und Anspannung spiegelten sich darin.
    Im Gebälk der nahen Scheune knarrte es. Eine Latte krachte herunter. Für einen quälend langen Moment kehrte die Stille wieder zurück, bis die hölzerne Scheunenwand unter gewaltigem Getöse in sich zusammenstürzte. Haushoch wirbelten Funken auf, Ascheregen rieselte nieder. Schreckensbleich stierten die kleine Blonde und die schmächtige Rothaarige in das Flammenmeer.
    Dort, wo eben noch die Scheune gestanden hatte, tanzte nur mehr dichter, stinkender Rauch. Das Holz am Boden glühte. Begierig leckte das Feuer an den Balken entlang. Abermals brauste der Wind in den Hof, wehte eine weitere Wolke Asche und Glut herein. Undurchdringlicher Qualm umnebelte die Kinder. Das Luftholen wurde zur Qual, jeder Atemzug biss schmerzhaft in die Brust. Abrupt drehte der Wind und riss das Feuer mit sich herum, um es zum nächsten Hof zu jagen. Das Prasseln der Flammen wurde leiser, und die Hitze schwand so rasch, wie sie gekommen war. Hustend und spuckend rangen die Mädchen nach Luft.
    Seit dem frühen Morgengrauen wütete das Feuer in der ehedem so prächtigen Stadt an der Elbe. Satt aber war es noch lange nicht. Stunde um Stunde fraß es sich durch die Gassen, leckte mit tausend Zungen in die Höfe und Häuser hinein, um binnen Augenblicken mit abertausend hungrigen Flammen aus den Fenstern zu schlagen. Auf der Straße wälzte sich der Zug der Fliehenden vorbei. Verzweiflungsschreie hallten von den rußgeschwärzten Mauern wider. Von der sanften Maisonne war nirgendwo etwas zu ahnen.
    »Gib endlich her!« Als Erste erwachte die blonde Elsbeth aus der Erstarrung. Entschlossen zerrte sie an dem Stoff, den die beiden Mädchen in Händen hielten. Durch den Ruck wurde auch die rothaarige Magdalena wieder lebendig. Erstaunt blickte sie Elsbeth an. Die Augen ihrer Cousine verengten sich zu schmalen Schlitzen, die sonst so vollen Lippen bildeten gerade Striche in dem ebenmäßigen Gesicht. Energisch hielt sie den Stoff fest. Straff wie eine Flagge spannte er sich zwischen ihnen.
    »Er gehört mir!« Magdalena stemmte den rechten Fuß in den Boden, lehnte den Oberkörper zurück und legte ebenfalls alle Kraft in ihr Ziehen. Nur weil Elsbeth ein gutes Stück größer war als sie, sollte sie nicht wieder die Oberhand behalten. Sie fuhr sich mit der Zunge über die aufgesprungenen Lippen und schmeckte die salzigen Tränen, die ihr die Wangen hinunterkullerten.
    »Nein, mir!« Wut funkelte in Elsbeths Augen. Die alabasterweißen Arme schimmerten im Feuerschein. Ein Heiligenschein aus gelbroten Flammen umkränzte ihren Kopf. Kein Zweifel: Der dunkle Taftrock würde sie in eine wahre Prinzessin verwandeln. Darum sollte sie den Rock auch nicht haben! Magdalena kniff ebenfalls die Augen zusammen und klammerte die kurzen Finger um den Stoff. Auch sie würde wunderschön darin sein. Schon sah sie den stolzen Blick ihres Vaters vor sich. Ihre smaragdgrünen Augen würden mit dem tannengrünen Stoff um die Wette leuchten, kühn würde sich der Taft beim Tanzen bauschen. Die Traumbilder schienen ihr mit einem Mal so wirklich, dass sie erst wieder verschwanden, als ihr der harte Stoffwulst in die Handflächen schnitt und der Schmerz sie jäh in den kahlen Hof zurückholte. Die roten Locken klebten ihr auf der Stirn, sie wegzuwischen, fehlte die Zeit. »Lass los!«
    »
Mir
hat ihn Babette geschenkt!« Entschlossen zerrte Elsbeth ein weiteres Mal an dem Stoff.
    »Du lügst! Sie ist meine Mutter! Deshalb hat sie den Rock
mir
gegeben!« Wütend stampfte Magdalena auf und versuchte gleichzeitig, den glatten Taft festzuhalten.
    »Nein, mir!« Elsbeth genügte ein neuerlicher Ruck, um Magdalena ins Straucheln zu bringen. Ein lautes Ratschen war zu hören. Haltlos purzelten beide Mädchen nach hinten und betrachteten entsetzt die Fetzen in ihren Händen. Sofort stimmte Elsbeth ein markerschütterndes Schreien an.
    Im selben Moment schoss Magdalenas Mutter Babette um die Ecke, einen großen Berg Weißzeug vor der Brust, die ansehnliche Beute vormittäglichen Mausens in der frisch eroberten Kaufmannsstadt. Ein Blick auf die
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