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Lieber Onkel Ömer

Titel: Lieber Onkel Ömer
Autoren: dtv
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irgendwie ungerecht. Oder, um mit Mehmets Worten zu sprechen,
     undemokratisch!
    Da fällt mir ein: Immer wenn ich mit Dir über Demokratie diskutieren wollte, hast Du mir diesen einen tollen Witz zu dem Thema
     erzählt. Erinnerst Du Dich noch?
    Eines Tages kommt Ali nach Hause und sagt zu seinem Vater:
    »Papa, Papa, wir behandeln zurzeit im Unterricht alle wichtigen politischen Staatsformen. Und ich muss morgen vor der Klasse
     vortragen, was die Demokratie ist. Kannst du mir bitte erzählen, was das ist?«
    Der Vater antwortet darauf:
    »Natürlich, mein Sohn. Aber vorher musst du erst mal einige Begriffe lernen. Also, schau mal, ich habe eine Fabrik, ich bringe
     das Geld nach Hause, ich bin der Kapitalist. Deine Mutter entscheidet, wie das Geld ausgegeben wird, sie ist die Regierung.
     Wir beide arbeiten nur für dich, du bist das Volk. Die Ays¸e, die bei uns den Haushalt erledigt und uns bedient und dadurch
     ihren Lebensunterhalt verdient, ist die Arbeiterklasse. Und dein kleiner Bruder Veli, der noch in den Windeln liegt, ist unsere
     Zukunft! Lern du erst mal diese Begriffe auswendig, und morgen früh erzähle ich dir, wie die Demokratie funktioniert.«
    |249| Als Ali nachts in seinem Zimmer versucht, diese Wörter auswendig zu lernen, hört er von nebenan, wie sein kleiner Bruder Veli
     ständig weint, weil er in die Windeln geschissen hat. Er läuft sofort zu seiner Mutter, aber die schläft schnarchend tief
     und fest. Er will seinen Vater wecken, aber der ist gar nicht da. Als er ziemlich besorgt an Ays¸e Zimmer vorbeigeht, hört
     er Geräusche, öffnet die Tür und sieht seinen Vater mit der Haushaltshilfe im Bett rumturnen. Daraufhin kehrt er in sein Zimmer
     zurück und legt sich hin.
    Am nächsten Tag beim Frühstück sagt der Vater zu ihm:
    »Ali, komm her, mein Sohn, ich erkläre dir jetzt, wie die Demokratie funktioniert.«
    Ali winkt ab und sagt:
    »Vater, das brauchst du nicht mehr. Ich habe heute Nacht mit eigenen Augen gesehen, wie die Demokratie funktioniert, nämlich
     so: Während der Kapitalist die wehrlose Arbeiterklasse flachlegt, schläft die Regierung seelenruhig, das Volk macht sich die
     ganze Zeit Sorgen und die Zukunft liegt in der Scheiße!«
     
    Aber zurück zum Thema: Wenn ich damals schon von den Geburtstagsfeiern der Deutschen gewusst hätte, wäre ich erst recht ausgeflippt
     und wäre wie mein Sohn Mehmet ein Revoluzzer geworden. Du kannst ja nicht wissen, wie die Deutschen Geburtstag feiern, das
     kannst Du Dir nicht mal vorstellen – und das ist auch gut so!
    Lieber Onkel Ömer, der Geburtstag wird in Alamanya von jedem einzelnen Deutschen mit unglaublich großem Brimborium gefeiert.
     Wir müssen Allah danken und uns sehr glücklich schätzen, dass er nicht alle Deutschen am |250| gleichen Tag auf die Erde geschickt hat! Dann hätten wir hier viel schlimmere Verhältnisse, als wenn Silvester, Karneval,
     Fußball-WM und Schwiegermutterbesuch am gleichen Tag stattfinden würden.
    So feiert wenigstens jeder an einem anderen Tag und nur mit seinen Bekannten zusammen, aber das ist auch schon schlimm genug!
     Bis morgens wird getrunken, rumgehopst und gegrölt, was das Zeug hält, die ganze Wohnsiedlung kann kein Auge zumachen.
    Aber eines kapiere ich bis jetzt immer noch nicht: Erst tun die Deutschen alles – zum Beispiel sich stundenlang im Sportstudio
     quälen, teure Antiäidsching-Cremes kaufen, sich überall im Gesicht und am ganzen Körper operieren lassen usw.– in der Hoffnung,
     dadurch einen Tag jünger auszusehen, und dann feiern sie wie verrückt, weil sie ein Jahr älter, klappriger und runzliger geworden
     sind. Verstehe, wer will, ey, ich meine, Onkel Ömer!
    Du glaubst aber gar nicht, wie toll das Ganze bei denen geregelt ist. Nach fünfzig, ja sogar nach achtundsechzig Jahren wissen
     sie immer noch auf den Tag genau, wann sie geboren wurden. Mein Kollege Hans, der Staplerfahrer, wurde zum Beispiel am 1.
     April geboren. Zwar wird er deshalb den ganzen Tag über verarscht und reingelegt, aber immerhin hat er einen offiziellen Geburtstag,
     der sich jedes Jahr aufs Neue wiederholt. Und sogar die zweitgrößte Nervensäge des Mittleren Orients, ich meine natürlich
     Eminanim, hat ein halbwegs genaues Geburtsdatum! Sie hat ihren Geburtstag genau neun Monate nach dem Tag, an dem sich ihre
     Eltern zum ersten Mal näher kennengelernt haben. Das war der Tag, an dem sie heirateten und der Fluss über die Ufer getreten
     ist und niemand die andere |251|
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