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Lieber Dylan

Lieber Dylan

Titel: Lieber Dylan
Autoren: Siobhan Curham
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    Betreff: Depression
    Datum: Freitag, 21. Juli, 16:25

    Lieber Dylan,
    ich hoffe, es nervt dich nicht, dass ich dir schon wieder maile, aber ich glaube, wenn ich mit niemandem darüber rede, drehe ich durch. Alles geht im Moment wirklich total schief. Ich fühle mich wie die tragische Heldin in dem Schwarz-Weiß-Film, den meine Mum sicham Samstagnachmittag angesehen hat, während der Ton-Zerstörer beim Fußball war. Sie hieß Gracie Delores, und den ganzen langen Film über hat sie versucht, von diesem schrecklichen Mann mit dem schwarzen Vollbart wegzukommen, und als es so aussah, als sei sie ihn endlich los, ist sie von einer Klippe gestürzt, oder genauer gesagt, sie hing von der Spitze der Klippe herunter und hat langsam und allmählich den Halt verloren und ist dann immer tiefer und tiefer gefallen, den tosenden, schäumenden Wellen entgegen, die sie ins Verderben rissen. »Oh nein, bitte nicht!«, hat sie geschrien, aber so verzweifelt sie auch versuchte, sich festzuhalten, der Zweig brach ein Stück weiter ab, oder die Spitze des Felsens bröckelte, und sie glitt in die Tiefe. Nun, ganz genauso fühle ich mich im Augenblick auch. Egal wie verzweifelt ich versuche, alles besser zu machen, es scheint immer nur schlimmer und schlimmer zu werden.
    Du denkst vielleicht, ich müsste doch glücklich sein, weil es der letzte Schultag ist und ich die ganzen langen Sommerferien vor mir habe. Du denkst, dass ich sicher mit Jessica und den beiden Kates in den Park gehen werde, um irgendwelche Sprüche auf die Steine zu schreiben oder über Jungs zu quatschen, aber welchen Sinn soll das haben? Für die anderen mag es okay sein. Die haben sechs Wochen voller Spaß, auf die sie sich freuen können. Jessica und die beiden Kates gehen für drei Wochen zu einem Theater-Workshop, wo sie eine Produktion von Bugsy Malone auf die Bühne stellen, aber ich gehe nicht mit. Nein, denn der Ton-Zerstörer hat gesagt, ich muss zu Hause bleiben und auf Michaela aufpassen, während er und Angelica arbeiten. Das ist so unfair. Wieso kann er denn nicht auf sie aufpassen? Er ist doch ihr Dad. Und er geht tagsüber doch sowieso nicht arbeiten, denn Taxi fährt er immer in der Nacht. In Wahrheit muss ich also auf sie aufpassen, während er schläft oder unten im Wettbüro ist, wo meine Mum arbeitet. So haben sie sich übrigens kennengelernt   – als er in den Laden kam, um auf ein Pferd zu wetten. Warum um Himmels willen ist er nicht stattdessen zu William Hill’s gegangen? Dann wäre mir dieses ganze Elend erspart geblieben. Aber andererseits hätte ich dann nicht Michaela alsSchwester, und das wäre genauso schlimm. Du würdest Michaela lieben, jeder liebt sie, sie ist richtig süß. Ganz rosige Bäckchen und blonde Löckchen. Nicht so wie ich mit meinem blassen Gesicht und meinen dunklen Haaren, die so dünn sind, dass sie wie Schnürsenkel aussehen. Und dann gibt sie auch noch die komischsten Sachen von sich. Gestern hat sie mich gefragt, warum die Zähne keine Augen haben, denn dann könnten sie die Zahnfee sehen, wenn sie kommt, um sie abzuholen, und bräuchten keine Angst zu haben (von der Zahnfee ist sie übrigens besessen). Ohne Michaela möchte ich also wirklich nicht sein, aber warum muss ihr Dad so gemein sein? Meine Mum verlangt ständig von mir, dass ich ihn Dad nenne, aber warum sollte ich? Ich habe doch schon einen Dad, auch wenn er tot ist. Er ist immer noch mein Dad, oder etwa nicht? Irgendwo habe ich mal ein echt cooles Gedicht gelesen, darüber, dass die Menschen wie Sterne sind, und nur weil man sie nicht immer sieht, heißt das noch lange nicht, dass sie nicht da sind. Ich denke, mein Vater ist noch da, er hat nur keine Möglichkeit mehr, mich zu erreichen, so wie einer, dessen Internet-Verbindung zusammengebrochen ist oder der kein Geld mehr auf dem Handy hat.
    GEORGIE stößt einen dramatischen Seufzer aus.
    Sorry, ich habe mir gestern den Text von Bugsy Malone aus der Bücherei geholt und ihn ununterbrochen gelesen, also dachte ich mir, ich könnte ein paar Bühnenanweisungen einfügen, sodass du dir besser vorstellen kannst, was ich so mache. Ach übrigens, ich hoffe, es läuft gut mit deinem Film.
    Wo war ich gerade? Ach ja, beim Ton-Zerstörer, den ich Dad nennen soll. Selbst wenn ich keinen Vater hätte, wenn ich so eine Art Wunderkind wäre wie Jesus und nur eine Mum hätte, würde ich diesen Typen auf gar keinen Fall Dad nennen. Väter sollten liebevoll und freundlich sein, oder? Väter
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