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Lieben: Roman (German Edition)

Lieben: Roman (German Edition)

Titel: Lieben: Roman (German Edition)
Autoren: Karl Ove Knausgård
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So viele Stunden, so viele Tage, so unendlich viele Situationen, die sich ergeben und durchlebt werden. Aus meiner
eigenen Kindheit sind mir nur eine Handvoll Episoden im Gedächtnis geblieben, die ich alle als bahnbrechend und bedeutsam empfand, obwohl sie eigentlich, wie ich heute erkenne, in einem Meer anderer Geschehnisse schwammen, was ihren Sinn gänzlich auslöscht, denn woher will ich eigentlich wissen, dass ausgerechnet diese Ereignisse, die sich mir eingebrannt haben, entscheidend waren und nicht all die anderen, über die ich nicht das Geringste weiß?
    Wenn ich Dinge dieser Art mit Geir diskutiere, mit dem ich täglich eine Stunde telefoniere, zitiert er immer wieder Sven Stolpe, der irgendwo schreibt, dass Ingmar Bergman immer Bergman gewesen wäre, ganz gleich, wo er aufgewachsen wäre, will sagen, dass man unabhängig von äußeren Bedingungen der ist, der man ist. Wie man der Familie begegnet, kommt vor der Familie. Als ich aufwuchs, wurde mir beigebracht, alle Eigenschaften, Handlungen und Vorfälle durch das Milieu zu erklären, in dem sie entstanden waren. Das Biologische und Genetische, also das Gegebene, hatte man im Grunde nicht im Blick, und wenn es auftauchte, wurde es misstrauisch beäugt. Eine solche Haltung mag auf den ersten Blick humanistisch erscheinen, da sie so eng mit der Vorstellung verbunden ist, dass alle Menschen gleich sind, bei genauerem Hinsehen kann sich darin jedoch ebenso gut eine mechanistische Auffassung vom Menschen ausdrücken, der leer geboren sein Leben von der Umgebung formen lässt. Lange habe ich mich rein theoretisch mit dieser Problematik auseinandergesetzt, die so grundlegend ist, dass sie in praktisch jedem Zusammenhang als Sprungbrett dienen kann – ist beispielsweise das Milieu der Faktor, der betont wird, ist der Mensch zunächst einmal sowohl gleich als auch formbar, und der gute Mensch kann geschaffen werden, indem man in seine Umgebung eingreift, daher der Glaube der Generation meiner Eltern an den Staat, das Bildungssystem und die Politik, daher
ihre Begierde, alles zu verschmähen, was einmal gewesen war, und daher ihre neue Wahrheit, die sich nicht im Inneren des Menschen befand, sondern im Gegenteil im Äußeren des Menschen, dem Kollektiven und Allgemeinen, vielleicht am allerdeutlichsten zum Ausdruck gebracht von Dag Solstad, der seit jeher der Chronist seiner Epoche gewesen ist, in jenem Text von 1969, in dem sein berühmter Satz »Wir wollen dem Kaffeekessel keine Flügel verleihen« steht: fort mit allem Geistigen, fort mit allem Erbaulichen, für einen neuen Materialismus – dass die gleiche Haltung jedoch hinter dem Abriss alter Stadtteile, dem Bau von Straßen und Parkplätzen stand, was von der intellektuellen Linken natürlich abgelehnt wurde, kam ihnen niemals in den Sinn und kann ihnen vielleicht auch erst heute in den Sinn kommen, seit die Verbindung zwischen Gleichheitsgedanken und Kapitalismus, Wohlfahrtsstaat und Liberalismus, dem Materialismus des Marxismus und der Konsumgesellschaft, einleuchtend ist, denn der größte Gleichmacher von allen ist das Geld, es hebt alle Unterschiede auf, und sind dein Charakter und dein Schicksal formbare Größen, so ist das Geld der naheliegendste Formgeber, und daraus entsteht das faszinierende Phänomen, dass Menschen massenhaft ihre eigene Individualität behaupten, indem sie identisch handeln, während diejenigen, die einst durch ihre Bejahung der Gleichheit, ihre Betonung des Materiellen und ihren Glauben an Veränderung die Tür öffneten, nun gegen ihr eigenes Werk wüten, von dem sie annehmen, der Feind hätte es erschaffen – aber wie alle simplen Argumentationen entspricht auch dies nur bedingt der Wahrheit, denn das Leben ist keine mathematische Größe, es hat keine Theorie, nur Praxis, und auch wenn es verlockend erscheint, die Umgestaltung der Gesellschaft durch eine Generation auf der Basis ihrer Sicht des Verhältnisses zwischen Vererbung und Milieu zu deuten, so ist diese Verlockung doch literarisch und besteht aus der Freude
am Spekulieren, also daran, das Denken durch die verschiedensten Gebiete menschlichen Wirkens zu fädeln, und weniger aus der Freude daran, das Wahre zu sagen. Der Himmel hängt tief in Solstads Büchern, sie reagieren ungeheuer sensibel auf Strömungen der Gegenwart, vom Gefühl der Entfremdung in den sechziger Jahren, der Feier des politischen Aufbruchs in den Siebzigern, und dann, als diese Winde gerade zu wehen begannen, bis zur Distanzierung am Ende
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