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Lieben: Roman (German Edition)

Lieben: Roman (German Edition)

Titel: Lieben: Roman (German Edition)
Autoren: Karl Ove Knausgård
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allerdings hatten sie nicht die Form konkreter Ereignisse, sondern waren eher Stimmungen, Gerüche, Wahrnehmungen. Wie das Licht, das in der Tagesmitte weißer und neutraler war, zum Nachmittag
hin allmählich voller wurde und alle Farben dunkler werden ließ. Oh, in einem Sommer in den Siebzigern auf dem Weg durch den schattigen Wald zu laufen! In das salzige Wasser zu springen und nach Gjerstadholmen auf der anderen Seite hinüberzuschwimmen! Die Sonne, die auf die flachen Felsen schien und sie beinahe golden aussehen ließ. Das trockene, strohige Gras, das in den Vertiefungen zwischen ihnen wuchs. Die Ahnung von Tiefe unter der Wasseroberfläche, so dunkel im Schatten unter dem Fels. Die Fische, die dort vorüberglitten. Und die Baumkronen über uns mit ihren schmächtigen, in der Meeresbrise bebenden Ästen! Die dünne Rinde und der glatte, knochengleiche Baum darunter. Das grüne Laub…
    »Da ist es«, sagte Linda und nickte zu einem kleinen, achteckigen Holzgebäude hin. »Wartest du?«
    »Wir gehen schon mal langsam weiter«, antwortete ich.
    Im Wald hinter dem Zaun standen zwei geschnitzte Holzweihnachtsmänner. Auf die Art rechtfertigten sie ihren Status als »Märchenland«.
    »Guck mal, Weihmann!«, rief Heidi. »Weihmann«, das war der Weihnachtsmann. Er hatte sie lange beschäftigt. Bis weit ins Frühjahr hinein hatte sie zur Veranda gezeigt, von wo an Heiligabend der Weihnachtsmann gekommen war, und »Weihmann kommt« gesagt, und wenn sie mit einem der Geschenke spielte, die er ihr gebracht hatte, erläuterte sie zunächst, woher es kam. Welchen Status der Weihnachtsmann in ihrer Vorstellung hatte, war nicht ganz leicht zu sagen, denn als sie durch ein Versehen zwischen den Jahren das Weihnachtsmannkostüm in meinem Kleiderschrank entdeckte, war sie nicht im Geringsten erstaunt oder aufgebracht, nichts war ihr enthüllt worden, sie deutete nur darauf und rief »Weihmann«, als ob das der Ort wäre, an dem er sich umzog, und wenn wir dem alten Penner mit dem weißen Bart begegneten,
der sich auf dem Platz vor unserem Haus herumtrieb, richtete sie sich manchmal in ihrem Wagen auf und rief aus vollem Hals »Weihmann«.
    Ich schob den Kopf vor und küsste sie auf ihre pralle Wange.
    »Nicht Küsschen!«, sagte sie.
    Ich lachte.
    »Darf ich dich dann küssen, Vanja?«
    »Nee!«, antwortete Vanja.
    Ein kleiner, aber gleichmäßiger Strom von Menschen ging ununterbrochen an uns vorbei, die meisten waren hell gekleidet, in kurzen Hosen, T-Shirts und Sandalen, ein paar trugen Jogginghosen und Joggingschuhe, auffallend viele waren dick, kaum jemand war gut gekleidet.
    »Mein Papa ist im Gefängnis!«, rief Heidi zufrieden.
    Vanja drehte sich im Wagen um.
    »Nein, Papa ist nicht im Gefängnis!«, sagte sie.
    Ich lachte erneut und blieb stehen.
    »Wir warten hier ein bisschen auf die Mama«, sagte ich.
    Dein Papa sitzt im Gefängnis war etwas, was die Kleinen im Kindergarten zueinander sagten. Heidi hielt es für etwas ungemein Großartiges und sagte es immer, wenn sie mit mir angeben wollte. Als wir vor kurzem vom Schrebergarten nach Hause wollten, hatte sie es Linda zufolge im Bus zu einer älteren Dame in der Sitzbank hinter ihr gesagt. Mein Papa ist im Gefängnis. Da ich nicht dort war, sondern mit John noch an der Bushaltestelle stand, blieb die Behauptung unwidersprochen.
    Ich senkte den Kopf und wischte mir mit dem Ärmel des T-Shirts den Schweiß von der Stirn.
    »Kann ich noch ein Los bekommen?«, sagte Vanja.
    »Kommt nicht in Frage«, antwortete ich. »Du hast doch schon ein Stofftier gewonnen!«
    »Bitte, Papa, noch eins?«, bettelte sie.
    Ich wandte mich um und sah Linda näher kommen. John saß aufrecht im Kinderwagen und wirkte unter seinem Sonnenhut zufrieden.
    »Alles in Ordnung?«, sagte ich.
    »Mm. Ich habe den Stich mit kaltem Wasser gewaschen. Aber er ist müde.«
    »Dann schläft er im Auto ein«, sagte ich.
    »Wie viel Uhr es wohl ist?«
    »Halb vier vielleicht?«
    »Dann wären wir um acht zu Hause?«
    »Ungefähr.«
    Ein weiteres Mal überquerten wir den kleinen Kirmesplatz und kamen an dem Piratenschiff vorbei, einer kläglichen Holzfassade mit ein paar Laufstegen dahinter, wo hier und da ein einbeiniger oder einarmiger Mann mit Schwert und Kopftuch stand, dem Freigehege mit Lamas und dem Gehege mit Straußen, der kleinen betonierten Fläche, auf der ein paar Kinder mit Kettcars fuhren, und gelangten schließlich zum Eingangsbereich, wo es einen Hindernisparcours gab, will sagen ein paar
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