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Liebe unter kaltem Himmel

Liebe unter kaltem Himmel

Titel: Liebe unter kaltem Himmel
Autoren: Nancy Mitford
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bis endlich die ersehnte Schlafenszeit kam. Es geschah jedoch auch ziemlich oft, dass Lord Montdore oder Boy Dougdale, wenn er zugegen war, das Kartenspiel aufgab und sich um uns kümmerte. Lord Montdore las uns aus Andersens Märchen oder aus Lewis Carroll vor, und irgendetwas an der Art, wie er las, trieb mir vor heimlicher Verlegenheit jedes Mal einen Schauder über den Rücken; Polly hingegen streckte sich der Länge nach aus, legte ihren Kopf auf den des Bären und hörte, wie ich glaube, einfach nicht zu. Viel schlimmer war es, wenn Boy Dougdale »Verstecken« oder »Sardinen« mit uns spielte, zwei Spiele, die er über die Maßen liebte – bei »Sardinen« ging es darum, wie viele Mitspieler sich unter einen kleinen Tisch oder in einen engen Winkel zwängen konnten. Er spielte diese Spiele auf eine Art und Weise, die Linda und ich »blöhöde« nannten. Als wir (die Radletts und ich) noch klein waren, hatte das Wort »blöd«, so ausgesprochen, in unserer Sprache eine ganz bestimmte Bedeutung; erst nach dem Vortrag des Lektors erkannten wir, dass Boy Dougdale nicht blöd gewesen war, sondern lasterhaft.
    Wenn Bridge gespielt wurde, blieb uns zumindest die Aufmerksamkeit von Lady Montdore erspart, die auch als Strohmann nur Augen für die Karten hatte. Wenn aber zufällig einmal nicht genügend Gäste da waren, um die vier vollzumachen, dann spielte sie Racing Demon mit uns, ein Kartenspiel, bei dem ich immer Minderwertigkeitsgefühle bekam, weil ich so langsam war.
    »Los, Fanny – wir wollen die Sieben sehen. He, träum nicht!«
    Sie gewann immer und ließ sich nie einen Stich entgehen. Ihr entging auch nie die geringste Kleinigkeit in unserem Aufzug, die schäbigen alten Hausschuhe ebenso wenig wie die nicht ganz zueinander passenden Strümpfe oder das nette, aber zu kurze und zu enge Kleidchen, aus dem man längst herausgewachsen war – alles wurde registriert und notiert.
    So war es unten. Oben konnte man es aushalten, jedenfalls war man vor Eindringlingen vollkommen sicher, im Kinderzimmer walteten Kindermädchen, im Schulzimmer Hauslehrerinnen, und weder hier noch dort drohten Besuche der Montdores, die vielmehr, wenn sie Polly sehen wollten, nach ihr schickten. Aber es war hier auch ziemlich langweilig, bei Weitem nicht so lustig wie in Alconleigh. Es gab keinen Wäscheschrank der »honorigen« Hons, keine verworfenen Unterhaltungen, keine Pirschtouren in die Wälder, um die Stahlfallen des Wildhüters zu verstecken oder die Fuchsbauten zu öffnen, die er vor jeder Jagd sorgfältig verstopfte, keine Nester mit kleinen Fledermäusen, die wir heimlich aus den Füllfederhaltern der Erwachsenen fütterten, während die Erwachsenen allerlei abstruse Vorstellungen über Fledermäuse hegten, sie seien voller Ungeziefer und würden sich einem ins Haar krallen. Polly war ein zurückhaltendes, ordentliches kleines Mädchen mit viel Sinn für alles Rituelle und einer Bereitschaft zur absoluten Unterwerfung unter die Gebote der Etikette, wie man sie allenfalls bei einer spanischen Infantin erwartet hätte. Man musste sie gern haben, sie war so schön und freundlich, aber ein Gefühl von Nähe und Vertrautheit hatte man bei ihr nie.
    Sie war das genaue Gegenteil von den Radletts, die immer alles »erzählten«. Polly »erzählte« nie etwas, und wenn es etwas zu erzählen gegeben hätte, dann hätte sie es für sich behalten und in sich vergraben. Ich weiß noch, wie uns Lord Montdore einmal das Märchen von der Schneekönigin vorlas (ich konnte kaum zuhören, so viel Ausdruck legte er in seine Stimme) und wie mir der Gedanke kam, es müsse von Polly handeln, und gewiss trage auch Polly einen Glassplitter im Herzen. Was liebte sie? Das war für mich das große Rätsel. Meine Cousinen und ich, wir überschütteten einander mit Liebe, wir überschütteten die Erwachsenen mit Liebe, außerdem die verschiedensten Tiere und vor allem die (oft historischen oder literarischen) Gestalten, in die wir ver- liebt waren. Und wir kannten dabei keine Zurückhaltung, jeder wusste, was jeder andere für jedes andere wirkliche oder imaginäre Wesen empfand. Außerdem war da noch das Kreischen. Kreischendes Gelächter, kreischende Bekundungen von Freude und Ausgelassenheit, die durch Alconleigh gellten, außer wenn Flut war, Tränenflut, was aber selten vorkam. Entweder herrschte Kreischen oder Flut, aber meistens Kreischen. Doch Polly überschüttete niemanden mit ihren Gefühlen, sie kreischte nicht, und ich habe sie auch nie in
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