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Liebe ist stärker als der Tod

Liebe ist stärker als der Tod

Titel: Liebe ist stärker als der Tod
Autoren: Heinz G. Konsalik
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drei Jahre lang um eine Adoption, aber sie mißglückte immer wieder, weil Loretta sagte: »Ich gebe mein Kind nicht her! Ich liebe meinen Sohn!«
    Als Pierre vier Jahre wurde, starb seine Mutter an einer Blutvergiftung. Sie hatte sich, als sie glücklich und vor Freude jauchzend mit Pierre barfüßig durch einen Wald lief, einen Dorn in den großen Zeh getreten, ihn herausgezogen und nicht weiter die winzige Wunde beachtet. In der Nacht begann das Blut im Bein zu klopfen, als hämmerten winzige Schmiede gegen den Knochen, am Morgen bekam sie Fieber, gegen Mittag schwoll das Bein rot an. Ein Krankenwagen jagte mit Blaulicht und Sirene in die nächste Klinik, aber dort kam Loretta bereits ohne Besinnung an.
    Man versuchte alles, amputierte das rechte Bein weit im Gesunden, gab alle erdenklichen Gegenmittel … Loretta de Sangries erwachte nicht wieder aus ihrer Bewußtlosigkeit. Sie starb, im Fieber glühend und verbrennend. Ein Dichter würde sagen: Sie hatte die Sonne geliebt, und die Sonne holte sie heim …
    Charles de Sangries, der Vater, sah es anders. »Der Junge hat sie getötet!« sagte er hart. »Hätte sie das Kind nicht gehabt, wäre sie nicht im Wald herumgesprungen wie eine Irre und hätte sich also keinen Dorn –« Eine zwingende Logik.
    Pierre lernte sie auf seine Weise kennen: Er wurde in ein Heim gegeben, in das Kinderheim ›Charité chrétienne‹, was nicht ›Liebe eines Kretins‹, sondern ›Christliche Nächstenliebe‹ heißt. Ein Heim hinter dicken düsteren Backsteinmauern, irgendwo im 18. Arrondissement, neben den Bahngleisen des Gare du Nord, über die Tag und Nacht die Züge donnern. Aber auch daran kann man sich gewöhnen.
    Nicht gewöhnen konnte sich Pierre an die Ohrfeigen seines Heimvaters Laluc. Er kannte nur die warmen Zärtlichkeiten seiner schönen Mutter, das einzige, was in seiner Erinnerung geblieben war, die Geborgenheit zwischen ihren weichen Brüsten, ihre leise, schwebende Stimme, die ihn in den Schlaf brachte. Monsieur Laluc, ein bulliger Mann mit einer roten Knollennase, schrie ihn an, nannte ihn Bastard, für den man gerade soviel Geld erhalte, um ihm den Hintern abzuwischen, und wenn Pierre in seinem namenlosen und unsagbaren Kummer ab und zu des Nachts sein Bett näßte, schlug Monsieur Laluc auf ihn ein, als wolle er aus Pierres Kopf Getreidekörner dreschen.
    Der Junge hielt das zwei Jahre lang aus. Zwei Jahre, in denen sich die Drescherei steigerte, denn Pierre begann – aus einem unwiderstehlichen Zwang heraus – die Wände mit allem zu bemalen, was sich zum Malen eignete. Kreide, Kohle, Senf, Marmelade, Butter, Gemüsesaft … alles, was irgendwie Farbe hergab, wurde unter seinen kleinen Händen zum Werkzeug.
    Monsieur Laluc verzweifelte. Charles de Sangries weigerte sich, für die Schäden aufzukommen; er behauptete, das sei wiederum ein Fall von Verletzung der Aufsichtspflicht, und von diesen Folgen – siehe Pierre – habe er nun die Nase voll.
    Als Pierre sein fünftes Lebensjahr beendete, schlug Monsieur Laluc, gewissermaßen als Gratulation, einen dicken Kochlöffel auf seinem Rücken in kleine Stücke. Mit dicken roten Striemen bedeckt, schwankte Pierre in sein Bett (er hatte auf dem Lokus Nr. 3 mit Erdbeer- und Orangenmarmelade einen herrlichen Sonnenuntergang an die Wand gemalt) – aber am nächsten Morgen war das Bett leer, das Fenster stand offen, und bis heute weiß niemand im Kinderheim ›Charité chrétienne‹, wie es einem Fünfjährigen gelingen konnte, über die hohe Backsteinmauer zu entkommen.
    »Er war der geborene Halunke!« sagte Monsieur Laluc zu den Polizisten, die den Fall protokollierten. »Sie werden später von diesem Früchtchen permanent beschäftigt werden. Denken Sie an meine Worte –«
    Der kleine Pierre wurde nie gefunden, denn zum erstenmal nach dem Tod seiner Mutter hatte er Glück: Ein Reise-Clochard, im Gegensatz zu den Brücken-Clochards nicht ansässig, las den Jungen im Morgengrauen neben den Schienen des Güterbahnhofs auf und erkannte sofort die Möglichkeiten, die ihm der Himmel damit schickte. Er lehrte Pierre, wie man bettelt, übte die verschiedenen Variationen des Handaufhaltens, des Jammerblicks und des Körperzitterns mit ihm und fand, daß Pierre ein gelehriger Schüler war.
    Bis zu Pierres zehntem Lebensjahr bettelten sich die beiden kreuz und quer durch Frankreich. Sie verdienten gut, denn ab dem neunten Jahr malte Pierre bereits kleine Bilder, zuerst mit geklauten Wasserfarben, dann – schon arriviert
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