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Liebe in St. Petersburg

Liebe in St. Petersburg

Titel: Liebe in St. Petersburg
Autoren: Heinz G. Konsalik
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primitive Särge, aber was kann man für fünf Rubel schon verlangen? »Als wirkliche Tote würde ich mich schämen, euch so etwas anzubieten!« meinte Zylachjew ehrlich. »Die Särge stammen noch aus der Zarenzeit und sind für einfachste Ansprüche gedacht. Aber ich garantiere euch: Darin kommt ihr bis Wladiwostok!«
    Es war ein Chaos, als der Zug in Petschogorsk einlief. Nicht nur, daß er bereits übervoll besetzt war – wer durch die Sperren gekommen war, drängte sich in die überfüllten Waggons, brüllte, trieb mit Faustschlägen die Reisenden noch mehr zusammen und eroberte sich so einen Stehplatz.
    Zylachjew hielt Wort. Er ließ einen Güterwagen ankoppeln, und dann geschah etwas, was selbst in Rußland selten zu sehen war: Soldaten der Roten Armee trugen feierlich fünf Särge zu dem Güterwagen und schoben sie hinein. Bei jedem grüßte Zylachjew stramm; und als alle Särge verstaut waren, grüßten auch die Soldaten der Roten Armee.
    Nach einstündigem Aufenthalt fuhr der Zug weiter. Über dreihundert Menschen blieben in Petschogorsk zurück, weinend, fluchend. Aber es werden immer wieder Züge kommen … Einmal wird es klappen! Genossen, was bedeutet in Rußland die Zeit?
    Als der Zug fuhr, schob Gregor seinen Sargdeckel beiseite und kletterte aus der Kiste. Auch Grazina richtete sich auf, dann Tschugarin, zuletzt Luschek. Michejew, dem Gregor den Deckel wegnahm, blieb in seinem Sarg liegen. Er hatte die Hände auf der Brust gefaltet.
    »Ich bleibe!« sagte er müde. »Es ist der richtige Platz! Mehr will ich nicht. Das war eine gute Idee. Ihr braucht den Deckel später nur zuzuschrauben …«
    »Du kommst mit uns nach Europa, Väterchen«, sagte Grazina und setzte sich neben den offenen Sarg. »Sag nicht so was Dummes, Väterchen …«
    Michejew sah seine Tochter an und schwieg. Später sagte er zu Gregor: »Mein Junge, ich habe es dir schon einmal gesagt: Ich verfluche dich bis an dein Lebensende, wenn du Grazina jemals ein Leid zufügst! Ich weiß, ihr liebt euch, wie sich zwei Menschen nur lieben können. Aber ein Leben lang ist sehr lang, und wenn eure Liebe auch wie Stahl ist, denkt daran, daß auch Stahl rosten kann!«
    Das war die längste Rede, die Michejew auf dieser Fahrt hielt. Von da an versank er wieder in Gedanken, dachte an sein altes Rußland, dachte an Anna Petrowna, die er auf seine Art geliebt – und die ihn doch nur gehaßt hatte. Welch ein Leben war es! dachte er. Ein Freund des Großfürsten, immer offene Türen zu den Zarenpalästen, Güter, so groß wie Belgien, ein Reichtum, der nicht zu zählen war. Und was ist geblieben? Ein roher Tannensarg, ein falscher Name, eine Flucht in die Erbärmlichkeit! Gott, erlöse mich …
    Was Zylachjew und auch Jerschow gesagt hatten, traf ein: Überall, wo der Zug hielt, wurde kontrolliert. Mal von den Roten, mal von den Weißen. Dann wurden ganze Waggons geräumt und Männer und Frauen weggetrieben. Neue Leute stürmten den Zug, die Fahrt ging weiter, bis zur nächsten Station, von der keiner wußte, ob sie rot oder weiß war …
    Die Särge aber rührte keiner an. Man blickte wohl in den Güterwagen, ganz Genaue lasen die Zettel auf den Särgen, noch Genauere zeichneten den Transport durch einen Kreidehaken auf dem Sargdeckel ab … aber niemand öffnete einen Sarg, um hineinzusehen. Ob Rote oder Weiße Armee – ein Toter befindet sich außerhalb aller Politik!
    Wenn der Zug nachts hielt, gingen Tschugarin und Gregor vorsichtig auf Nahrungssuche. Sie schafften kaltes Fleisch heran, Wasser, einmal sogar einen Glasballon mit Limonade, Brot und Kuchen. Zwar wunderte man sich auf der nächsten Station, wieso ein Limonadenballon neben fünf Särgen steht, aber es gab soviel Unerklärliches in diesen Monaten, daß man die Waggontür wieder zuschob.
    Nach zwei Wochen erreichten sie Tschita, das südliche Tor zu den Taigagebieten Nordsibiriens, durch die die Lena fließt, ein Strom, an dem man oft nicht von Ufer zu Ufer blicken kann, so breit ist er.
    In Tschita lag Wladimir Alexandrowitsch Michejew reglos in seinem Sarg, als Grazina ihm einen Becher Milch bringen wollte. Er atmete nicht mehr. Ganz still, ohne daß die anderen es merkten, war er gestorben. Er hatte sich weggeschlichen in die große Ruhe, in den ersehnten Frieden. Wenn es wahr war, was die Popen predigten, daß es ein Wiedersehen unter Gottes Augen gab, dann wollte er dort Anna Petrowna treffen und sie um Verzeihung bitten für ein ganzes Leben.
    Auf der nächsten Station hinter
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