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Liebe in St. Petersburg

Liebe in St. Petersburg

Titel: Liebe in St. Petersburg
Autoren: Heinz G. Konsalik
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denen das Herrscherpaar Platz nehmen würde, um von da aus das Fest zu überschauen.
    »Ihre Majestäten, der Zar und die Zarin!« rief an der Flügeltür der Haushofmeister. Das Orchester intonierte die Zarenhymne, die Offiziere erstarrten, die Frackträger verneigten sich tief und die Damen versanken in einem Hofknicks.
    Zar Nikolaus II. und die Zarin Alexandra Feodorowna, ehemals eine hessische Prinzessin, betraten den Festsaal. Im Gegensatz zu seinen Gästen war der Zar einfach gekleidet: eine schwarze Hose mit roten Streifen, eine enge blaue Jacke, auf die der rote Doppeladler, Rußlands Wappen, gestickt war – das war alles. Eine fast zarte Gestalt war eingetreten, bleich, mit traurigen Augen, den Kinnbart gestutzt, um die Lippen ein müdes Lächeln …
    Die Zarin neben ihm, in einem schweren Kleid aus bestickter Seide, das ein eigens aus Paris geholter Schneider angefertigt hatte, im hochgesteckten Haar das kaiserliche Diadem, schritt einher wie ein aufgezogener Automat, wie jene Wunderwerke mechanischer Puppen, die tanzen und singen konnten und doch nur aus Schrauben, Zahnrädern und Metallstangen bestanden. Die Zarin wirkte zerbrechlich, ihr nach allen Seiten verteiltes Lächeln war erstarrt. Unter dem Puder, der ihr Gesicht bedeckte, ahnte man die Blässe vieler durchwachter und durchweinter Nächte.
    Langsam schritten der Zar und die Zarin durch das Spalier der Gäste zu ihrem Podium mit den goldenen Sesseln. Jetzt betraten die Zarentöchter den Saal, von allen anwesenden Damen bestaunt, beneidet, mit Blicken abgetastet. Vier Mädchen, deren Schönheit aus einem Märchenbuch zu stammen schien.
    Allein der Zarewitsch fehlte. Die Ärzte – und es waren immer Ärzte um ihn – hatten abgeraten, ihn zum Silvesterball mitzunehmen. Ein Stoß beim Tanz, ein Stolpern, ein Ausrutschen auf dem glatten Parkett – alles konnte zu lebensgefährlichen inneren Blutungen führen. Und wer konnte diese Blutungen stillen? Keiner! Das hatte man oft genug in ohnmächtiger Wut erlebt. Nur Rasputin würde es gelingen, aber gerade jetzt hatten es die Großfürsten erreicht, daß er vom Zarenhof verbannt worden war und im fernen Sibirien, in seinem dreckigen Dorf Pokrowskoje hauste. Dort ließ er sich wie ein Heiliger feiern, tyrannisierte seine Familie, schwängerte sämtliche Weiber der Umgebung, schrieb der Zarin Briefe und befahl ihr darin, wie sie sich verhalten solle, schickte an den Zaren Telegramme und versuchte noch immer, in das Schicksal Rußlands einzugreifen. Ein stinkender Muschik, ein nach Schweiß und Urin penetrant duftender Rohling mit einem zerzausten wilden Bart und in einem Bauernkittel, an dem noch der getrocknete Unrat der letzten versoffenen Nacht klebte.
    Den Zarewitsch also hatte man mit seinem ständigen Begleiter, einem riesigen Matrosen, in seinen Zimmern zurückgelassen – einen traurigen Jungen, der von fernher die Musik hören und um Mitternacht mit ein paar Freunden mit einem Schluck Sekt das neue Jahr beginnen würde. Und auch diesen Schluck überwachte man mit Sorgfalt, denn der Kelch konnte in der Hand des Thronfolgers zerbrechen, und ein kleiner Schnitt bedeutete unaufhaltsames Bluten …
    Ganz hinten, in einer Ecke des Saales, wohin er der Rangordnung nach gehörte, stand Gregor von Puttlach. Er trug die Uniform der deutschen Garde-Ulanen und beobachtete stumm den Auftritt der Zarenfamilie. Seit er als Dritter Militärattaché an die Deutsche Botschaft gekommen war und in St. Petersburg den Ausbildungsstand der russischen Kavallerie studieren sollte, waren ihm Feste, Bälle, Empfänge und Soupers nicht mehr fremd. Ein junger deutscher Offizier, ein Oberleutnant der Ulanen – das war für die reichen Familien wie ein Geschenk des Himmels. Zwar war man in den hohen russischen Kreisen mehr französisch orientiert, hielt sich französische Hauslehrer, französische Tanzlehrer, französische Köche und Schneider, französische Friseure. Ein starker Hauch von Paris lag über St. Petersburg; wenn man die Elendsgestalten übersah, die gerade jetzt im Winter, mit strohumwickelten Beinen, aus der Umgebung auf den Markt kamen und eingelegte Gurken oder Sauerkohl verkauften. Ein deutscher Offizier in einem russischen Adelssalon oder einem reichen Handelshaus war doch eine deutliche Demonstration, daß Rußland nicht mehr das Land der unbekannten Wolfsjäger war, sondern daß es sich nach Westen öffnete.
    Bei den jungen Damen wurde Gregor von Puttlach herumgereicht wie Zuckergebäck. Es gab in St.
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