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Leuchtfeuer Der Liebe

Leuchtfeuer Der Liebe

Titel: Leuchtfeuer Der Liebe
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Holzveranda.
    Nun hörte sie das Tosen der Brandung laut und rhythmisch. Uber den dunklen Himmel zogen große Wolken, die, von einem seltsamen Licht beleuchtet, wie fette Fische durch die Nacht schwammen.
    Woher kam dieses Licht? Verwirrt hielt sie sich an der Balustrade fest, der Schwindel hatte sich verstärkt, ihre verletzte Schulter pochte schmerzhaft. In der Dunkelheit erspähte sie einen Holzverschlag, halb verdeckt von Fliederbüschen. Das Klosett? Ja. Fröstelnd tappte sie auf nackten Füßen durch frisch gemähtes, nasses Gras. Nachdem sie sich erleichtert hatte und den Verschlag verließ, wurde sie wie magisch von dem silbrigen Lichtschein angezogen. Mühsam schleppte sie sich einen sanften Hügel hinauf. Hinter dichten hohen Bäumen ragte die Silhouette eines imposanten Turms in den Nachthimmel. Ein Leuchtturm.
    Erinnerungsfetzen stiegen in ihr auf. Das grässliche Übelkeitsgefühl, als der Schiffsrumpf von einer Seite zur anderen schlingerte. Das Ächzen und splitternde Krachen der berstenden Schiffsplanken. Ein Seemann, der ihr mit heiserer Stimme etwas zuschrie, ihr ein Tauende zuwarf. Ein Stück vom Mast oder der Rahnock, das im Wasser trieb. Sie hatte sich mit dem Tau daran festgebunden. Sie erinnerte sich, wie sie den Horizont verzweifelt mit Blicken abgesucht hatte.
    Als die See den Viermaster verschlang - Blind Chance hieß das Schiff -, mit unheimlich gurgelndem Schlürfen, hatte sie das Licht erspäht, zunächst wie eine schwache Funzel. Es konnte kein Stern sein, dafür stand es zu tief am Horizont. Sie hatte das Licht nicht mehr aus den Augen gelassen, war stundenlang, wie ihr schien, mit Händen und Füßen in seine Richtung gepaddelt. Das Wasser war kalt, aber erträglich. In gleich bleibendem Takt hatte der Leuchtturm sie näher und näher gezogen: Ein lang anhaltender Lichtstreifen, gefolgt von kurzer Dunkelheit, tauchte mit zuversichtlicher Regelmäßigkeit auf, spornte sie an, durchzuhalten.
    Als die Morgendämmerung den Horizont schwach erhellte, hatte die Erschöpfung sie übermannt. Als letztes Bild hatte ihr Bewusstsein das Licht wahrgenommen. Sie entsann sich, gedacht zu haben, es sei tröstlich, mit dem letzten Atemzug ein Licht zu sehen.
    Nun stand sie auf der Hügelkuppe in maßlosem Staunen, überlebt zu haben.
    Aber wer war ihr Retter?
    Sie überlegte, ob sie ihn suchen sollte, stand unschlüssig im Schatten eines hohen Nadelbaumes, spürte die feuchte, nachgiebige Erde unter ihren nackten Fußsohlen.
    Und dann sah sie ihn.
    Ihr erster Gedanke war Flucht. Doch das war wohl nicht nötig, er konnte sie gewiss nicht sehen.
    Er stand auf dem eisernen Laufgang hoch oben auf dem Turm und blickte auf die See hinaus. Der rotierende Lichtstreifen erfasste seine hohe Gestalt. Der Nachtwind zerrte an seinen langen Haaren. Etwas erschien ihr merkwürdig an seiner Haltung. Er hatte die Hände tief in den Taschen seiner Seemannsjacke vergraben und die Schultern hochgezogen, als friere er. Aber die Nacht war nicht kalt, es wehte ein lauer Wind.
    Er stand reglos, versteinert wie der Turm. Der Lichtkegel, der ihn in regelmäßigen Abständen streifte, tauchte ihn in einen fahlen, gespenstischen Schein.
    Nur das Licht bewegte sich, der Mann aber stand vollkommen still.
    Sie beobachtete ihn lange, eine Ewigkeit, wie ihr schien. In die Gestalt des Fremden an der Eisenbrüstung des Leuchtturms kam kein Leben. Müde und geschwächt schleppte sie sich mit letzter Kraft ins Haus und kroch wieder ins Bett.
    Kaum lag ihr Kopf auf dem Kissen, war sie wieder eingeschlafen und hatte zum ersten Mal seit langer Zeit keine Angst.
     
    Es war Zeit, sich von der Nacht zu verabschieden.
    Jesse genoss die stillen Momente zwischen Nacht und Tag. Würziger Geruch stieg vom feuchten Waldboden und den Wiesen auf. Die Kormorane, die sich nachts in den Klippen niedergelassen hatten, ließen ihre klagenden Schreie hören. Ein graues Nichts, in dem die Welt stillzustehen schien. Die Nacht war gegangen, und ein neuer Tag brach an. In diesen Momenten zwischen der Zeit war er ganz allein, was er so schätzte. Die Stille. Den Frieden.
    Der neue Tag gab kein Versprechen. Nur die Gleichförmigkeit des Vortags und das dumpfe Wissen, dass der morgige Tag ebenso eintönig verlaufen würde.
    Dies wurde Jesse in solchen Augenblicken deutlicher bewusst als sonst, wenn der Horizont sich erhellte, als gieße man Wasser in schwarze Tinte, bevor der Tag den Himmel im Osten in stechender Klarheit färbte.
    Doch heute ist alles anders,
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