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Letzte Nacht in Twisted River

Letzte Nacht in Twisted River

Titel: Letzte Nacht in Twisted River
Autoren: John Irving
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hatte ihn offenbar an Sixpack erinnert. Ja, in diesem Augenblick hatte Lady Sky auch Danny an Sixpack erinnert - an die
junge
Sixpack, an die Sixpack aus längst vergangenen Zeiten, als sie mit Ketchum zusammengelebt hatte.
    »Herrje, du zitterst ja fürchterlich - hoffentlich geht die Flinte nicht los«, sagte Amy.
    »Ich habe auf dich gewartet«, sagte Danny zu ihr. »Ich habe
gehofft.«
    Sie küsste ihn; sie hatte einen Kaugummi mit Minzgeschmack im Mund, doch das störte ihn nicht. Sie war warm und verschwitzt, aber nicht außer Atem - nicht einmal von dem Schneeschuhlaufen. »Gibt's hier irgendwas, wo man reingehen kann?«, fragte Amy. (Man sah auf den ersten Blick, dass Opas Hütte unbewohnbar war - es sei denn, man war Ketchum oder ein Geist. Von dem hinteren Anleger aus konnte man die anderen Gebäude unmöglich sehen, auch wenn gerade kein Schneesturm herrschte.) Danny hob ihre Schneeschuhe und die Skistöcke auf, wobei er darauf achtete, dass die Mündung des Karabiners auf den Steg zeigte, und Amy schulterte den großen Rucksack. Hero lief wie zuvor voran.
    Sie machten am Schreibschuppen halt, damit Danny ihr seinen Arbeitsplatz zeigen konnte. Der kleine Raum roch immer noch nach den üblen Hundefürzen, doch der Holzofen war nicht ausgegangen - in dem Schuppen war es so heiß wie in einer Sauna. Amy zog ihren Parka und ein paar Kleidungsschichten aus, die sie unter dem Parka trug, bis sie nur noch ihre Thermohose und ein T-Shirt anhatte. Danny sagte ihr, er habe einmal geglaubt, dass sie älter sei als er - oder dass sie vielleicht gleich alt seien -, aber wie war es möglich, dass sie jetzt
jünger
wirke? Damit meinte Danny nicht jünger als damals auf der Schweinefarm in Iowa, sondern dass sie weniger gealtert war als er - woran das, ihrer Meinung nach, liege?
    Amy erzählte ihm, sie habe ihren kleinen Sohn verloren, als sie
viel
jünger gewesen war, noch ehe Danny sie als Fallschirmspringerin kennenlernte. Amys einziges Kind war gestorben, als es zwei Jahre alt war - so alt wie der kleine Joe zur Zeit der Grillparty. Durch diesen Tod war Amy gealtert, und das hatte man ihr noch etliche Jahre danach angesehen. Inzwischen war Amy zwar nicht über den Tod ihres Sohnes
hinweg
- über einen Verlust wie diesen kommt man nie hinweg, und ihr war klar, dass Danny das ebenfalls wusste. Aber nach so vielen Jahren steht einem der Verlust nicht mehr so deutlich ins Gesicht geschrieben. Vielleicht sehen einem andere Menschen den Tod eines Kindes nach sehr langer Zeit nicht mehr an. (Joes Tod lag noch nicht so lange zurück; wer Danny kannte, stellte fest, dass er dadurch merklich gealtert war.)
    »Wir sind mehr oder weniger gleich alt«, sagte Amy. »Ich bin seit zwei Jahren sechzig, glaube ich - wenigstens sage ich das den Typen, die fragen.«
    »Du siehst wie fünfzig aus«, erklärte Danny.
    »Willst du mich anbaggern, oder was?«, fragte ihn Amy. Sie las die Sätze und Satzfragmente aus dem ersten Kapitel - die Zeilen, die er mit Heftzwecken an die Holzwände des Schreibschuppens gepinnt hatte. »Was ist das?«, fragte sie.
    »Das sind Sätze oder Satzteile, die mir schon mal vorausgeeilt sind; jetzt warten sie darauf, dass ich sie einhole«, antwortete er ihr. »Das sind alles Zeilen aus meinem ersten Kapitel - nur den ersten Satz habe ich noch nicht gefunden.«
    »Vielleicht helfe ich dir beim Suchen«, sagte Amy. »Ich bleibe eine Weile hier. Ich habe keine anderen Projekte.« Danny hätte wieder weinen können, doch in diesem Moment klingelte sein Handy - zum vierten verdammten Mal an diesem Tag! Natürlich war es ein Kontrollanruf von Andy Grant.
    »Ist sie schon da?«, fragte Andy. »Und wer
ist
sie?«
    »Sie ist diejenige, auf die ich gewartet habe«, antwortete ihm Danny. »Sie ist ein Engel.«
    »Manchmal«,
korrigierte ihn Lady Sky, als er das Telefonat beendet hatte.
»Diesmal
aber schon.«
    Was hätte wohl der Koch zu seinem Sohn gesagt, wenn ihm Zeit geblieben wäre, einige richtige letzte Worte zu sagen, ehe ihm der Cowboy ins Herz schoss? Dominic hätte höchstens der Hoffnung Ausdruck verliehen, sein einsamer Sohn möge »jemanden finden« - mehr nicht. Jetzt
hatte
Danny sie gefunden; genau genommen hatte sie ihn gefunden. Wenn er an Charlotte und jetzt an Amy dachte, so hatte Danny - wenigstens in diesem Aspekt seines Lebens - Glück gehabt. Manche Leute finden nie auch nur
einen
Menschen für sich; Daniel Baciagalupo dagegen hatte zwei gefunden.
    Die letzten Jahre hatte Amy in Minnesota gelebt,
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