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Letzte Nacht in Twisted River

Letzte Nacht in Twisted River

Titel: Letzte Nacht in Twisted River
Autoren: John Irving
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genauso gern wie der Koch und sein Sohn, und Angel hatte erklärt, Küchenarbeit finde er langweilig. Der Junge hatte körperlich anstrengendere Arbeit gewollt, und er war gern im Freien.
    Das ständige Pochen der Flößerstangen gegen die Stämme wurde kurz von den Rufen der Flößer unterbrochen, die gerade Angels Stange entdeckt hatten - etwa fünfzig Meter von der Stelle entfernt, wo der Junge verschwunden war. Die knapp fünf Meter lange Stange trieb abseits der Stämme im Wasser, weiter draußen, wo die Flussströmung sie hingetragen hatte.
    Der Koch sah den Flößer mit dem gebrochenen Handgelenk ans Ufer kommen, die Flößerstange in der unversehrten Hand. Zuerst an den vertrauten Flüchen, dann auch an den verfilzten Haaren und dem wirren Bart erkannte der Koch, dass der Verletzte Ketchum war - ein erfahrener Mann, der sich mit den Tücken einer Trift, dem Flößen nicht miteinander verbundener Baumstämme, auskannte.
    Es war April - nicht lange nach der Schneeschmelze und dem Beginn der Matschperiode -, doch das Eis im Fluss war erst kürzlich aufgebrochen, und die ersten Stämme waren weiter oben, in den Dummer-Teichen, durch das Eis gekracht. Der Fluss war eiskalt und führte Hochwasser, und viele der Holzfäller hatten dichte Barte und lange Haare, die ihnen Mitte Mai ein wenig Schutz vor den Kriebelmücken bieten würden.
    Ketchum lag wie ein angeschwemmter Bär am Flussufer auf dem Rücken. Der Teppich aus Baumstämmen trieb an ihm vorbei; er sah aus wie ein Rettungsfloß und die Flößer darauf wie Schiffbrüchige auf hoher See, nur dass das Meer von einem Augenblick zum anderen die Farbe wechselte - von Grünlich-Braun zu Bläulich-Schwarz. Gerbstoffe färbten das Wasser des Twisted River.
    »Scheiße,
Angel!«, schrie Ketchum. »Ich hab doch gesagt: >Beweg deine Füße. Du musst die
Füße
bewegen!< So 'ne Scheiße!«
    Für Angel war die riesige Fläche aus Baumstämmen kein Rettungsfloß gewesen. Zweifellos war er im Becken oberhalb der Flussbiegung ertrunken oder zu Tode gequetscht worden. Dennoch folgten die Holzfäller (auch Ketchum) dem Holz wenigstens noch bis zu der Stelle, wo sich der Twisted River am Dead-Woman-Damm in den Pontook-Stausee ergoss. Diesen Stausee hatte der Pontook-Damm am Androscoggin River geschaffen. Ließ man die Stämme weiter in den Androscoggin treiben, kamen sie als Nächstes zu den Sortierstellen bei Milan. Danach hatte der Androscoggin auf drei Meilen ein Gefälle von siebzig Metern; bei den Sortierstellen in Berlin dann teilten zwei Sägewerke den Fluss. Durchaus denkbar, dass der junge Angel Pope aus Toronto dorthin unterwegs war.
     
    Bei Einbruch der Dunkelheit waren der Koch und sein Sohn immer noch in der Dining Lodge, dem Kochhaus der kleinen Siedlung namens Twisted River, die kaum größer und nur wenig dauerhafter war als ein Holzfällercamp. Gemeinsam räumten sie die zahlreichen unberührten Mahlzeiten ab, vielleicht konnte man ja am nächsten Tag noch etwas davon gebrauchen. Vor nicht allzu langer Zeit war eine Dining Lodge bei einer Holztrift gar kein festes Haus gewesen. Damals gab es nur eine mobile Küche, die man fest auf das Chassis eines Trucks montiert hatte, und daneben einen Laster mit Einzelteilen, die man ablud und zu einer Kantine zusammensetzte. Damals folgten die Lastwagen noch den Holzarbeitern an ihre verschiedenen Einsatzorte entlang des Twisted River.
    Zu jener Zeit kamen die Flößer - außer an den Wochenenden - kaum zum Essen und Schlafen in den Ort Twisted River zurück. Der Lagerkoch kochte dann häufig in einem Zelt. Alles musste transportierbar sein, sogar die Schlafbaracken hatte man auf Lkw-Fahrgestelle montiert.
    Noch wusste keiner, was aus der nicht gerade florierenden, auf halber Strecke zwischen dem Flussbecken und den Dummer-Teichen gelegenen Ortschaft Twisted River werden würde. Hier wohnten die Angestellten des Sägewerks mit ihren Familien. Den weniger sesshaften Holzarbeitern, zu denen nicht nur die frankokanadischen Wanderarbeiter, sondern auch die meisten Flößer und die anderen Holzfäller gehörten, stellte das Holzunternehmen Schlafbaracken zur Verfügung. Der Koch und sein Sohn bekamen sogar eine besser ausgestattete Küche in einer
richtigen
Dining Lodge - dem Kochhaus. Aber für wie lange? Das wusste nicht einmal der Besitzer des Holzunternehmens.
    Die Holzwirtschaft war in einer Übergangsphase; eines Tages würde jeder in der Holzbranche von zu Hause aus zur Arbeit gehen können. Die Holzfällercamps (und
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