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Letzte Instanz

Letzte Instanz

Titel: Letzte Instanz
Autoren: Marcia Muller
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Blick war auf Judy gerichtet.
Unerbittlich.
    »Es ist Cordy!« Mit ganz leiser Stimme
jetzt. »Sie liegt da, als ob sie schläft, aber alles ist voll Blut...«
    Ich sah mich nach Wallace und Joslyn
um, versuchte, ihnen ein Zeichen zu geben. Doch sie sahen mich beide nicht.
Eyestones Gesichtsausdruck war wachsam geworden, sein Blick fuhr zwischen Judy
und Stameroff hin und her. Der Richter stand mit gesenktem Kopf da, als warte
er auf einen tödlichen Schlag.
    »Cordy ist tot«, sagte Judy in
bühnenerprobtem Flüsterton. »Sie hat Mamas Jubiläums-Glückspennies auf den
Augen.« Sie trat zurück, sah auf ihre Füße.
    Schweigen. Judy sah noch immer nach
unten. Schließlich setzte sie hinzu: »Und da ist Cordys Finger mit dem
Amethystring, den Daddy ihr geschenkt hat.«
    Ein Schauer durchfuhr die Umstehenden.
Meine schlimmen Vorahnungen wuchsen. Judy sah weiter auf den Boden, dorthin, wo
einmal der Rittersporn gewachsen war. Rittersporn...
    Stameroff hob den Kopf und wollte auf
sie zutaumeln. »Judy, nein...«
    Sie sah ihn an. »Warum nicht? Du weißt,
was ich getan habe.«
    »Judy...«
    »Ich hob Cordys Finger auf und zog den
Ring herunter. Dann warf ich den Finger von der Klippe ins Meer. Und dann ging
ich ins Haus zurück und versteckte den Ring, wo niemand außer mir ihn je finden
würde.«
    Es folgte eine Stille, als wären wir
alle in eine Leere gestürzt. Unten schlug eine hohe Welle gegen die Klippe.
    Judy sah ihrem Adoptivvater mit
verächtlich zusammengepreßten Lippen direkt in die Augen. »Ich habe gelogen«,
sagte sie. »Jahrelang habe ich gelogen. Und du hast mich dazu gebracht .«
    Jacks Griff lockerte sich. Ich zog
meinen Arm mit einem Ruck fort. Stameroff und ich gingen im selben Augenblick
auf Judy zu. Und blieben stehen, als ihr rechter Arm unter dem Cape hervorschoß
und eine langläufige Pistole auf ihn richtete.
    »Du hast mich zum Lügen gezwungen«,
sagte sie. »All diese Jahre und jedesmal, wenn ich der Wahrheit auf den Grund
gehen wollte, hast du mich daran gehindert.«
    Rundum ein allgemeines Aufstöhnen. Die
Umstehenden wichen wie auf ein Wort zurück — schockiert und bestürzt. Selbst
Wallace und Joslyn waren wie erstarrt.
    Mein erster Gedanke war, daß Judys
Waffe, mit der sich Lis erschossen hatte, ja im Besitz der Polizei war. Diese
Waffe mußte also aus dem Bühnenfundus stammen — wieder ein inszeniertes
Melodram. Mit Platzpatronen geladen, wenn überhaupt. Doch was war, wenn echte
Kugeln im Magazin steckten? Was, wenn sie wirklich vorhatte, ihn zu töten?
    Wallace erholte sich von seinem Schock
und rief: »Keine Panik! Es ist alles in Ordnung. Nur nicht bewegen!«
    Stameroff ignorierte ihn, ging mit wild
flackerndem Blick auf Judy zu. »Ich habe es zu deinem Schutz getan! Ich mußte
deiner Mutter versprechen...«
    »Ihr beide wolltet nur euch selber
schützen.« Sie faßte die Pistole mit beiden Händen. Stameroff erstarrte.
    Alle, außer Jack und mir, waren in
ihrem Blick- und Schußwinkel. Jack schien unfähig zu sprechen oder sich zu
bewegen.
    Sollte ich auf die Waffe losgehen?
Riskieren, daß es eine tödliche Waffe war? Wenn sie nun auf Stameroff oder in
die Menge schoß?
    Ich machte einen langsamen Schritt auf
sie zu. Sie bekam die Bewegung am Rande ihres Blickfelds mit. »Nicht näher,
Sharon.«
    Ich blieb stehen, sah mir die Waffe an.
Auf die Entfernung war nicht zu erkennen, ob sie echt war oder nicht — Theaterrequisiten
hatten schließlich ihre Qualität. Sollte ich es wagen?
    Wenn nur ich beteiligt wäre,
vielleicht. Aber ich konnte nicht die Sicherheit der anderen gefährden.
    Also vernünftig mit ihr reden? Dem
großen Drama, das sie da inszenierte, auch noch Nahrung geben?
    Vielleicht von beidem etwas. Vielleicht
traf ich ja auch eine schwache Stelle.
    »Judy«, rief ich, »ich weiß, er ist ein
Schweinehund und verdient seine Strafe, aber nicht so. Und nicht vor all diesen
Zeugen.«
    »Was kümmern mich schon Zeugen?«
    »Weil dein Leben etwas wert ist. Wirf
es nicht weg.«
    »Das hat meine Mutter weggeworfen, als
sie diese Frau ermordete.«
    Sie wußte es nicht. Die Lücke in ihrer
Erinnerung hatte sich nicht ganz geschlossen.
    Und da war die schwache Stelle.
    »Judy, deine Mutter hat Cordy
McKittridge nicht getötet. Möchtest du den Menschen, der es getan hat, weiter
ungeschoren davonkommen lassen?«
    Meine Worte schienen sie zu verwirren.
Aber sie hielt die Waffe immer noch auf Stameroff gerichtet.
    »Nachdem du den Finger weggeworfen
hast«, fragte ich
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