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Letzte Instanz

Letzte Instanz

Titel: Letzte Instanz
Autoren: Marcia Muller
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wieder um meine Einwilligung gebeten,
meinen Fall wiederaufrollen zu lassen. Ich habe keine Widerstandskraft mehr,
und ich glaube, ich schulde es ihr. Wissen Sie, sie war es, die den Beweis
entdeckte, der zu meiner Verurteilung führte. Sie war damals gerade zehn Jahre
alt. Der Vertreter der Anklage, Joseph Stameroff, brachte sie dazu, gegen mich
auszusagen. Als dann später ihr Vater sie nicht mehr bei sich haben wollte,
haben Stameroff und seine Frau sie adoptiert und alles getan, um sie völlig
gegen mich einzunehmen. Aber Judy hat mich immer geliebt und hat wieder Kontakt
zu mir aufgenommen, als sie erwachsen war. Sie hat sogar den Namen Stameroff
abgelegt und sich wieder Benedict genannt. Als der Gouverneur vor sechs Wochen
meine Strafe aus Gesundheitsgründen aussetzte, hat sie mir angeboten, bei ihr
zu wohnen. Dies ist das einzige, worum sie mich jemals gebeten hat. Wie kann
ich ihr das abschlagen?«
    »Vielleicht wäre es das Beste für Sie
beide, wenn Sie nun die Vergangenheit ruhen ließen.«
    Ihre pergamentene Haut bekam erregte
Flecken. »Ich wünschte, das wäre möglich. Aber Judy fühlt sich so schrecklich
schuldig wegen der Rolle, die sie damals gespielt hat. Sie hat die Erinnerung
an den Mord und den Prozeß großenteils verdrängt. Sie war auch immer unterwegs —
von San Francisco nach Los Angeles, von Los Angeles nach New York und wieder
zurück nach San Francisco. Als sie sich schließlich hier niederließ, vergrub
sie sich in ihre Arbeit. Diese Beziehung zu Ihrem Kollegen Jack Stuart ist die
erste normale, von der ich überhaupt weiß, und selbst die hat mit meinem Fall
zu tun.«
    Jack Stuart war Experte für Strafsachen
in unserer All-Souls-Legal-Kooperative. Ich wußte nicht allzuviel über seine
Beziehung zu Lis Benedicts Tochter, aber was sie mir über Judys bisheriges
Leben erzählt hatte, klang nicht aufrichtig. Judy war Schauspielerin gewesen.
Ihre Karriere hatte sie vom Laienspiel in San Francisco über Werbespots und
gelegentliche Fernsehrollen in Hollywood bis zu Auftritten in New Yorker
Seifenopern geführt. Mir hatte sie einmal erzählt, daß sie schließlich die
Schinderei für die TV-Tagesprogramme leid gewesen sei und sich entschlossen
habe heimzukehren. Hier habe sie sich dann von ihrem wohlhabenden Adoptivvater
Geld für die Produktion von Off-Broadway-Stücken in einem kleinen Theater in
der Innenstadt geborgt. Jack hatte sie bei einer von ihr gesponserten
Veranstaltung kennengelernt, auf der für einen Schauspieler-Workshop gesammelt
wurde. Und obwohl ich die beiden inzwischen bei verschiedenen
gesellschaftlichen Anlässen getroffen hatte, hatte ich bisher nichts davon
gemerkt, daß ihre Beziehung und die Verurteilung der Mutter in einem direkten
Zusammenhang standen. Ich hatte den Verdacht, daß Lis Benedict diesen Punkt in
Judys Leben überbewertete, und ich fragte mich, ob dahinter nicht noch mehr
steckte als mütterlicher Altruismus.
    »Also ist Judy die einzige, die sich
für eine Wiederaufnahme Ihres Falls einsetzt?« fragte ich.
    »Ja.«
    »Versprechen Sie sich auch etwas davon?«
    Die Frage ärgerte sie. »Nehmen Sie zur
Kenntnis, Miss McCone, daß ich mir sehr wenig davon verspreche. Jack hat vor,
meinen Fall vor das Historische Tribunal zu bringen und ihn nicht etwa neu vor
einem ordentlichen Gericht aufzurollen.«
    Das hatte er in unserem kurzen Gespräch
über den Fall nicht erwähnt, und es machte mich nun wütend. Offensichtlich
steckte eine Absicht dahinter.
    San Francisco ist eine Stadt, die auf
ihre Geschichte sehr stolz ist. Zur Zeit schmückte sie sich mit zwei
quasigerichtlichen Institutionen, die unter dem Vorsitz echter Richter
Scheinverfahren durchführten — den Gerichtshof für Historische Revision und das
Historische Tribunal. Ersterer veranstaltete seine Anhörungen während der
Mittagszeit. Anwälte traten dabei oft im Kostüm der Zeit auf und trugen
bedeutende Fälle vor — war Fatty Arbuckle des Mordes schuldig, für den er 1921
verurteilt wurde? —, oder sie stritten sich um absolut schrullige Dinge — war
Groucho Marx ein Genie oder nur ein komischer Kauz? Die Verhandlungen vor dem
Historischen Tribunal waren länger. Sie zogen sich über ein ganzes Wochenende
hin und waren ernsthafterer Natur. Doch keiner dieser Prozesse hatte etwas mit
echter Rechtsprechung zu tun. Ich war mir ziemlich sicher, daß Jack mir seinen
Plan deswegen verschwiegen hatte, weil er sich nicht fragen lassen wollte,
wieso er die Chefermittlerin von All Souls auf einen
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