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Letzte Instanz

Letzte Instanz

Titel: Letzte Instanz
Autoren: Marcia Muller
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dieser Ort wegen seiner vertrauten Beständigkeit so gut, wegen seiner
Rechtschaffenheit und Wahrhaftigkeit.
    Rechtschaffenheit und Wahrhaftigkeit:
Eigenschaften, auf die ein Ermittler nur selten trifft. Was hatte ich von Lis
Benedict zu erwarten? Die Frau machte einen ehrlichen Eindruck, doch das tun
viele Mörder, die ihre Unschuld beteuern. Unser Gespräch war viel zu kurz
gewesen, als daß ich mir schon ein genaues Bild machen konnte.
    Schließlich stand ich auf, wischte den
Hosenboden meiner Jeans ab und ging den Hügel hinab. Nach ein paar Blocks die
Zufahrtstraße entlang war ich wieder bei meinem Wagen, den ich in der Wool
Street in der Nähe von Judys Haus geparkt hatte. Die Häuser, an denen ich
vorbeikam, bildeten eine seltsame Mixtur: Cottages mit Fachwerk, verputzte
Reihenhäuser, kleine Mehrfamilienhäuser, Bauten im klassischen viktorianischen
Stil. Viele hatten Gemüsegärten, manche auch nicht genehmigte Hühnerställe. Die
Gegend um Bernal Heights hat etwas Ländliches, und deswegen zieht sie wohl Paare
mit kleinen Kindern an, Neuankömmlinge aus Mexiko, alternde und nostalgische
Hippies und so merkwürdige Institutionen wie All Souls.
    Als ich die Ecke zur Wool Street
erreichte, entdeckte ich eine Menschenmenge vor Judys weißem viktorianischem
Haus. Ich war beunruhigt und beschleunigte meine Schritte. Die Menge — es waren
nicht viele, schließlich war Freitagnachmittag — wogte hin und her. Ich hörte
ein gedämpftes Murmeln. Gleich hinter dem niedrigen Lattenzaun stand Lis
Benedict und starrte auf die Fassade des Hauses. Als ich näherkam, sah ich in
blutroten Buchstaben die Worte »Mörderin« und »Schlechterin« auf die Schindeln
gesprüht. Die Rechtschreibung stimmte nicht, aber der Sinn war klar.
    Ich bahnte mir einen Weg durch die
Gaffer und faßte Mrs. Benedict am Arm. »Wer war das? Haben Sie es gesehen?«
    Sie schüttelte den Kopf, ohne den Blick
von der Schrift abzuwenden. Die Farbe war so frisch, daß sie noch herabrann.
Wie eine riesige Blutspur lief sie die weißen Schindeln herab. Judy würde entsetzt
sein, wenn sie aus dem Theater zurückkam und das sehen mußte.
    Ich drehte mich um und rief den Leuten
hinter uns zu: »Hat jemand beobachtet, wer das getan hat?«
    Stimmengewirr. Dann sagte ein Mann im
Overall: »Ein Junge. Sah aus wie ein Mexikaner. Ist dorthin gerannt.« Er zeigte
nach unten in Richtung Mission Street. »Dürfte nicht schwer sein, ihn zu
finden. Er hat diese rote Lackfarbe überall an den Händen.«
    Ich wandte mich wieder Lis Benedict zu.
Sie hatte sich nicht von der Stelle gerührt. Ihre Schultern hingen herab, und
die stolze Haltung ihres Kopfes war gewichen. Ich faßte sie wieder am Arm.
Langsam sah sie mich an. Ihre Augen waren trüb und verhangen.
    »Sie haben mich gewarnt«, sagte sie.
    »Wer?«
    »Stimmen am Telefon.«
    »Sie haben Drohanrufe bekommen? Warum
haben Sie mir das nicht gesagt?«
    Sie schluckte, holte tief Luft und
packte meine Hand, um festen Halt zu bekommen. »Ich wollte, daß Sie sich nur
meinen Fall als solchen ansehen und dann entscheiden, ob Sie mir helfen wollen
oder nicht. Hätte ich die Anrufe erwähnt, dann hätte es sich angehört, als
wollte ich betteln. Ich bettele nie. Mein Leben war schon so erniedrigend
genug.«
    Dieser Stolz, dieser störrische Stolz.
Er konnte verletzend sein, sogar tödlich. »Wann kamen die Anrufe?«
    »Seit Dienstag und dann immer wieder.«
    »Wie oft?«
    »Zwei- bis dreimal am Tag.«
    »Was wurde gesagt?«
    »Dasselbe, was da oben steht.« Sie
zeigte zum Haus. »Sogar noch Schlimmeres.«
    »Drohungen?«
    »Nicht direkt. Nur, daß ich die Stadt
verlassen soll, daß ich hier nicht erwünscht bin.«
    Anonyme Anrufe: die Zuflucht der
Feiglinge. Ich schüttelte wütend den Kopf. »Sie sprachen von ›Stimmen‹. Sind es
immer verschiedene?«
    »Das kann ich nicht sagen.«
    »Männlich oder weiblich?«
    »Männlich, mit spanischem Akzent.«
    Die Leute hinter uns zerstreuten sich langsam.
Ich sah ihnen nach und fragte mich, ob wohl ein Nachbar hinter den Anrufen
steckte. Wer von ihnen mochte Lis Benedict schon in seiner Nachbarschaft wohnen
haben?
    Sie sagte etwas, das ich nicht
verstand.
    »Bitte?«
    »Ich muß woanders hinziehen.«
    »Diese Anrufer sind bloß Spinner.
Ignorieren Sie sie einfach.«
    »Aber das hier...« Mit einer schwachen
Geste zeigte sie auf das Haus.
    »Das ist ein kindlicher böser Unfug.«
    »Kinder können gefährlich sein. Ich
kann nicht die Sicherheit meiner Tochter gefährden.« Sie
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