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Letzte Instanz

Letzte Instanz

Titel: Letzte Instanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcia Muller
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alten Fall ansetzte, der
vor einem Pseudo-Gericht neu verhandelt werden sollte.
    »Warum kein neues ordentliches Verfahren?« fragte ich.
    Lis Benedict sah weg und schien mit
großem Interesse ein Schiff im Kanal jenseits von Hunters Point zu betrachten.
Das grelle Sonnenlicht betonte ihre Blässe noch. Unter der schlaffen Haut
wirkten ihre Gesichtsknochen wie geschrumpft, und die früher einmal elegant
geschwungenen Konturen ihrer Wangen und Brauen ließen sich nurmehr erahnen.
Überrascht stellte ich fest, daß sie als junge Frau eindrucksvoll, vielleicht
sogar schön gewesen war.
    Nach einer Weile wandte sie sich mir
wieder zu, mit einem schmerzerfüllten Ausdruck in den aquamarinblauen Augen.
»Weil ich selbst Geschichte bin, Miss Cone. Das Historische Tribunal mag zu
meinen Gunsten entscheiden, doch einen wirklichen Freispruch wird es für mich
nie geben.«
    Ich biß mir auf die Lippe und spürte
ihre fürchterliche Hoffnungslosigkeit.
    »Wollen Sie Jack nun bei der
Vorbereitung meines Verfahrens helfen oder nicht, Miss McCone?«
    Ich gab keine Antwort und starrte zu
den smogverhangenen Hügeln auf der anderen Seite der Bay hinüber. Ihre Umrisse
zerflossen vor meinen Augen ebenso wie die Fakten eines sechsunddreißig Jahre
alten Mordfalls. Diese Frau, dachte ich, ist durch eine wahre Hölle gegangen — durch
unendlich viele ausgeklügelte Formen der Hölle, wie ich sie mir nicht einmal in
Ansätzen vorstellen konnte. Was sollte ich ihr sagen? Es tut mir leid, aber
ich habe in diesem Jahr schon so einiges erlebt, und ich kann es mir nicht
leisten, wieder in einen Fall hineingezogen zu werden, der mich emotional
mitnimmt. Meine Reserven sind schon total an anderen Klienten verschlissen
worden, anderen Opfern. Ich habe keine mehr übrig für Sie.
    Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Lis
Benedicts Hände sich ineinander verkrampften, daß die Knöchel weiß
hervortraten. Aber sie wiederholte ihre Frage nicht. Ich wünschte, ich hätte
einfach ja sagen können, ihr die Furcht nehmen. Aber etwas in mir hielt mich
zurück. Das Verbrechen — das scheußliche Abschlachten und Verstümmeln der
einundzwanzig Jahre alten Geliebten ihres Mannes — stieß mich zu sehr ab. Und
so sehr mir Mrs. Benedict auch leid tat, mußte ich doch zugeben, daß ich sie
nicht wirklich mochte. Zumindest nicht genug, um mich mit Hank Zahn anzulegen,
der offiziell mein Boss bei All Souls war und mir sagen würde, daß ich meine
Zeit und das Geld unserer Kooperative nicht mit derartigen Ermittlungen
vergeuden solle.
    Schließlich sagte ich: »Lassen Sie mich
dieses Wochenende darüber nachdenken. Am Montag sprechen wir noch einmal
darüber.«
    Sie ließ sehr plötzlich die Schultern
fallen und drückte damit ihre Enttäuschung aus, aber sie sagte kein Wort. Sie
hatte in all den Jahren, in denen ihr eine Haftentlassung nach der anderen
abgeschlagen worden war, wohl gelernt, sinnlose Proteste zu unterdrücken. »Ich
höre dann von Ihnen.« Sie stand auf und wartete auf mich.
    »Gehen Sie ruhig schon«, sagte ich.
»Ich möchte noch ein wenig hier sitzen bleiben.«
    Sie gab mir die Hand und ging auf den
schmalen Asphaltstreifen zu, der sich zwischen dem Fernmeldeturm und der
Zufahrtstraße hinabschlängelte. Ich sah ihr nach: eine schmale,
hochaufgerichtete Gestalt in einem langen Marine-Pullover und Hosen, die
vorsichtig, aber stolz davonschritt, ohne sich noch einmal umzusehen.
    Als sie um die nächste Kurve
verschwunden war, stand ich auf und überquerte den kiesbestreuten Boden bis zu
der Stelle, wo der Fels zu den tiefer gelegenen Häusern abfiel. Ich suchte mir
eine glatte Stelle auf dem Stein und setzte mich mit gekreuzten Beinen nieder.
Ich war verwirrt und kam mir kleinmütig vor.
    Zwei schmerzliche Fälle in einem Jahr
hatten mich ausgelaugt. Mein ganzer Schwung, mein Interesse, mein Engagement
waren dahin. Ich spürte sie sogar jetzt, während ich hier an einem schönen
Nachmittag in der Sonne saß: diese Apathie und Lustlosigkeit. Sechs Monate lang
hatte ich geradlinig meine Arbeit getan, war produktiv gewesen, sorgenfrei und
fühlte mich sicher. Und ich steuerte doch gleichzeitig auf ein Ereignis zu, das
mein Gleichgewicht erschüttern sollte. Egal ob Lis Benedict schuldig war oder
unschuldig, die Wiederaufnahme dieses alten Mordfalls, dessen Details auch dem
abgebrühtesten Ermittler noch den Magen umdrehen würde, drohte solch ein
Ereignis zu werden.
    Der Zwei-Penny-Mord, wie man ihn
genannt hatte, war in San Francisco eine berühmte

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