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Die Geliebte des Trompeters

Titel: Die Geliebte des Trompeters
Autoren: Gabriela Jaskulla
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|5| I.   Die Begegnung
    Das erste Mal war nicht großartig gewesen. Es war eben so geschehen. Er hatte sie am Straßenrand stehen sehen, und sie hatte ihn auch entdeckt und ihn angeschaut. Sie hatte ihn lange nicht aus den Augen gelassen, was leicht möglich war, denn er saß mit seinen Kameraden rückwärts auf der offenen Ladefläche eines olivgrünen Lastwagens, lachend, lässig, eine ganze Bande war das, und er, ruhig, groß, dunkel, hatte aufgeschaut und sie entdeckt, dort, an der Ecke Kolonnenstraße – Kaiser-Wilhelm-Platz. Der Armeelastwagen entfernte sich langsam, und sie wurde immer kleiner unter seinen Blicken, weil sich der Lastwagen entfernte, es kam ihm so vor, als würde sie herausgezogen aus seinen Blicken, herausgesogen wurde sie, und dass er keinen Einfluss darauf hatte, machte ihn wütend, zum ersten Mal in vier Monaten bei der Army wurde der Soldat wütend und fluchte und hieb seinem Sitznachbarn auf den Oberarm, dass er ächzte. Und alles wegen dieses Mädchens am Straßenrand, das kurz den Rock gelüftet hatte, um einen löchrigen Strumpf zu richten.
    Am Straßenrand! Als ob es noch Straßen mit ordentlich befestigten Rändern gegeben hätte! Schneisen waren es, graue, staubige, unebene, holprige, unansehnliche Wege in |6| einem Trümmerfeld. Das Trümmerfeld, das war Berlin gewesen. Da war der junge Mann vorbeigekommen, auf dem Weg vom Hauptquartier der US Army in Zehlendorf nach Tempelhof. Ein Junge war das eigentlich noch, keine zwanzig, und sie hatte ihn angesehen.
    Gestiert hast du, hätte ihre Mutter gesagt, geglotzt, der Vater und hinzugefügt: Mach, dass du Land gewinnst. Aber die Mutter hatte Riccarda selbst auf die Straße geschickt, schon vor langer Zeit, und der Vater – war da und doch nicht da, wie so viele. Der junge Mann, der eigentlich noch ein Junge war, hatte ihren Blick erwidert, verblüfft, wie es schien, und das war’s. Nicht mal hallo gerufen oder guten Tag oder die Hand gehoben zum Gruß.
    Beiläufig hätte man das wohl früher genannt, als es solche Begegnungen noch gab, die gerade dadurch ihren Charme gewannen, dass sie zufällig waren. Beiläufig wie Wasserholen, wie den Staub von der Schreibmaschine wischen, wie die Spange aus dem Haar nehmen vor dem Zubettgehen. Jetzt gab es nichts Beiläufiges mehr, keine Zeit zu verschwenden hatte man. Die letzte Perlmuttspange schon lange versetzt, Wasserholen noch vor kurzem ein lebensgefährliches Abenteuer, um Bürostaub kümmerte sich keiner mehr, seit meterhoher Schutt in den Straßen lag, den Heerscharen gebeugter Frauen mit bloßen Händen wegräumten, in Kitteln, mit Tüchern um den Kopf, die wie Lumpen aussahen, als hätten diese Frauen alle Kopfschüsse, alle seien sie versehrt,
krank im Koppe
, wie Riccardas Mutter sagte.
    In dieser Welt glaubte man nicht an Zufälle und hatte vergessen, was Beiläufigkeiten waren,
da war kein Verlass drauf
, sagte Riccardas Mutter, alles musste sitzen, musste passen, wollte organisiert und bewerkstelligt sein. Nie waren die Berliner organisierter gewesen als in dem Chaos, in das der Krieg sie gestürzt hatte, nie wurden straffere Pläne geschmiedet, |7| hastigere Verabredungen getroffen, minutengenauere Abläufe ersonnen und eingehalten als in den ersten Monaten nach dem Krieg.
    Und dann das. Ein Mädchen, das glotzt. Und ein Junge, der sich fragt, was das zu bedeuten hat. Sie lächeln beide. Und etwas passiert in der Kehle des Jungen, so dass er sich verschluckt und zu husten beginnt und ihm der Nachbar, den er eben noch geboxt hat, auf die Schulter schlägt:
Come on   …
Mehr nicht: Ein Blick, ein Innehalten, ein kleiner Schluckauf. Etwas, das zum Rest der Zeit nicht passte. Mehr war nicht an diesem trügerisch warmen Apriltag des Jahres 1947.   Und doch wusste Riccarda mit einem Mal, dass der Winter vorbei war.
     
    Es war der Winter aller Winter gewesen. Schlimmer als alles, was davor gewesen war, und schlimmer als alles Vorstellbare. Es war der Winter der Heimsuchung oder der Rache, und die Berliner Frauen wurden stumm über diesen Vermutungen. Die Vermutungen oder Verfolgungen ließen selbst nachts nicht von ihnen ab, wenn sie unter immer zu dünnen Decken lagen, bemüht, sich nicht zu rühren, bemüht, nicht die kalten Stellen der schäbigen Matratzen zu berühren, da, wo früher der Mann gelegen hatte, der Verlobte, der Freund.
    Und während sie wach lagen und auf den Schlaf warteten, der nicht kam, verwandelte sich das Wasser in den Leitungen in Eis, platzten die Rohre.
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